Bei Einbruch der Nacht
Wacher. »Du störst mich.«
»Was machst du gerade?«
»Das siehst du doch. Ich wache.«
Die Kirchturmuhr schlug Viertel nach, Adamsberg kam allein wieder aus der Gendarmerie und überquerte den weiten gepflasterten Platz, um zum Viehtransporter zu kommen. Als er die Strecke zur Hälfte hinter sich hatte, sprang der Wacher plötzlich aus dem Laster, stolperte auf den Trittstufen und flog auf den Bürgersteig.
»Auf den Boden, Junge!« brüllte er, so laut er konnte.
Adamsberg verstand, daß er gemeint war. Er warf sich genau in dem Augenblick zu Boden, als eine Detonation die Stille zerriß. Bis die Nonne ein weiteres Mal gezielt hatte, war er hinter die Bank gehechtet, hatte sie am Hals gepackt und schnürte ihr mit seinem linken Arm die Kehle zu. Sein rechter Arm blutete und hing kraftlos herunter. Camille und Soliman saßen wie versteinert da, ihnen schlug das Herz bis zum Hals. Camille reagierte als erste, sprang aus dem Laster und stürzte zum Wacher, der noch immer auf dem Bürgersteig lag und höhnisch »Gut gemacht, Junge, gut gemacht« vor sich hin brummte. Vier Gendarmen rannten auf Adamsberg zu.
»Wenn du mich nicht losläßt«, brüllte das Mädchen, »knall ich sie ab!«
Fünf Meter vor der Bank blieben die Gendarmen stehen.
»Und wenn sie schießen, mach ich den Alten nieder!« fügte sie hinzu und richtete ihre Waffe auf den Wacher, der noch immer am Boden lag, die Schultern auf Camilles Arm. »Und ich ziele gut! Fragt den Dreckskerl, ob ich gut ziele!«
Über dem Platz lag bleierne Stille, niemand rührte sich, alle waren in ihrer Haltung erstarrt. Adamsberg, der das Mädchen noch immer am Hals gepackt hielt, näherte seinen Mund ihrem Ohr.
»Hör mir zu, Sabrina«, sagte er behutsam.
»Laß mich los, Arschloch!« rief sie außer Atem. »Oder ich mach den Alten und sämtliche Bullen in diesem verdammten Kaff alle!«
»Ich habe deinen Jungen gefunden, Sabrina.«
Adamsberg spürte, wie das Mädchen sich unter seinem Arm verkrampfte.
»Er ist in Polen«, fuhr er fort, die Lippen noch immer an der grauen Haube der Nonne. »Einer von meinen Männern ist dort.«
»Du lügst«, murmelte Sabrina haßerfüllt.
»Er ist in der Nähe von Danzig. Nimm deine Waffe runter.«
»Du lügst!« schrie das Mädchen, nach Luft ringend, den zitternden Arm noch immer ausgestreckt.
»Ich habe sein Foto in meiner Tasche«, fuhr Adamsberg fort. »Das ist vor zwei Tagen gemacht worden, als er gerade aus der Schule kam. Ich komm nicht dran, du hast mich am Arm verletzt. Und wenn ich dich loslasse, erschießt du mich. Was machen wir, Sabrina? Willst du sein Foto sehen? Willst du ihn wiederhaben? Oder willst du alle abknallen und ihn nie wiedersehen?«
»Das ist eine Falle«, zischte Sabrina.
»Laß einen von den Gendarmen herkommen. Er nimmt das Foto und zeigt es dir. Du wirst ihn wiedererkennen. Du wirst sehen, daß ich nicht lüge.«
»Kein Bulle.«
»Also ein unbewaffneter Mann.«
Sabrina überlegte einen Moment, unter dem Druck des Arms noch immer nach Luft ringend.
»Einverstanden«, keuchte sie.
»Sol!« rief Adamsberg. »Komm langsam her, mit erhobenen Armen.«
Sol stieg aus dem Laster und kam zur Bank.
»Komm hinten rum zu mir. In meiner linken Innentasche ist ein Umschlag. Mach ihn auf, nimm das Foto heraus. Zeig es ihr.«
Sol kam der Aufforderung nach, nahm das Schwarzweißfoto eines kleinen, etwa achtjährigen Jungen aus dem Umschlag und hielt es dem Mädchen vors Gesicht. Sabrina senkte den Blick auf das Bild.
»Laß das Foto jetzt auf der Bank liegen, Sol. Geh zum Laster zurück. Also, Sabrina? Erkennst du den Kleinen?«
Das Mädchen nickte.
»Wir werden ihn zurückholen«, sagte Adamsberg.
»Er wird ihn nie rausrücken«, flüsterte Sabrina.
»Glaub mir, er wird. Nimm deine Waffe runter. Mir liegt sehr an dem Alten, der da am Boden liegt. Mir liegt sehr an den beiden, die im Laster sitzen. Mir liegt an den vier Bullen, die da vorne stehen und die ich nicht besser kenne als du. Mir liegt an mir. Und mir liegt an dir. Wenn du dich rührst, werden sie aus der Deckung auf dich schießen. Es ist gar nicht gut, einen Bullen zu verletzen.«
»Sie bringen mich in den Knast.«
»Sie bringen dich dahin, wo ich es sage. Ich kümmere mich um dich. Nimm deine Waffe runter. Gib sie mir.«
Sabrina, die am ganzen mageren Leibe zitterte, senkte den Arm und ließ die Waffe auf den Boden fallen. Adamsberg ließ langsam ihren Hals los, gab den Gendarmen ein Zeichen, ein paar Schritte zurückzugehen,
Weitere Kostenlose Bücher