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Bei Tag und bei Nacht

Bei Tag und bei Nacht

Titel: Bei Tag und bei Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Roberts
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einen Seefahrer. Er hatte dichtes, dunkles Haar, das vom Sturm zerzaust und achtlos zurückgestrichen war. Der ausdrucksvolle Mund wirkte sinnlich, und die aristokratische Nase passte nicht ganz in das zerklüftete Gesicht.
    Gennie stellte fest, dass seine tiefbraunen Augen sie keineswegs neugierig oder gar freundlich musterten. Der Fremde war offensichtlich ärgerlich über die Störung.
    »Wie zum Teufel sind Sie hierhergekommen?«
    Die Frage entsprach nicht ganz dem Empfang, den Gennie in einer solchen Situation erwartet hatte, aber der furchterregende Marsch durch das Unwetter saß ihr noch in den Gliedern. »Ich bin gelaufen«, sagte sie deshalb einfach.
    »Gelaufen?«, wiederholte er ungläubig. »In diesem Wetter? Von woher?«
    »Ein paar Meilen von hier entfernt ist mein Wagen stehen geblieben.« Gennie zitterte, einerseits vor Kälte und andererseits, weil sie sich ärgerte. Der Mann hielt sie noch immer fest, und vor Erschöpfung ließ Gennie es geschehen.
    »Weshalb sind Sie in einer solchen Nacht unterwegs gewesen?«
    »Ich … ich habe das Haus von Mrs. Lawrence gemietet. Als mein Wagen streikte, bin ich zu Fuß weitergegangen. Aber ich muss wohl die Abzweigung in der Dunkelheit verfehlt haben. Dann sah ich Ihr Licht.« Gennie seufzte und spürte plötzlich, dass sie auf sehr zittrigen Beinen stand. »Darf ich mich setzen?«
    Er starrte sie eine Minute lang an, murmelte eine unverständliche Antwort und deutete auf das Sofa im Hintergrund. Gennie sank darauf nieder, lehnte ihren Kopf gegen die Lehne und bemühte sich um Fassung.
    Was soll ich nur mit ihr machen? fragte sich Grant. Mit gerunzelter Stirn sah er auf Gennie herab. Das wirre Haar klebte an ihrem Kopf, es war schwarz wie die Nacht, und die Spitzen lockten sich ein wenig. Ihr Gesicht erschien nicht besonders zart oder fein, aber es war schön und erinnerte an die königlichen Damen auf mittelalterlichen Gemälden. Die nasse Kleidung klebte an ihrem Körper und verhüllte wenig von den festen, schlanken Formen.
    Normalerweise hätten schon Gesicht und Figur Grant beeindruckt. Was ihn jedoch für einen Moment total verwirrt hatte, waren ihre Augen gewesen: seegrün, unglaublich groß und etwas schräg stehend. Nixenaugen, dachte er. Einen Herzschlag lang – oder einen halben nur – überlegte Grant, ob er es vielleicht mit einem mythischen Wesen zu tun hätte, das vom Sturm ans Ufer geschleudert worden war.
    Ihre Stimme klang sanft. Obwohl Grant den Tonfall der Südstaatler erkannte, wirkte ihre Sprache fast fremdländisch im Vergleich zu dem harten Dialekt der Küstenbevölkerung, an den er sich gewöhnt hatte. Grant gehörte aber ganz und gar nicht zu den Männern, die es ausnutzten, wenn der Zufall ihnen leichtes Spiel machte. Als Gennie ihre Augen wieder aufschlug und ihm zulächelte, wünschte er inbrünstig, niemals seine Haustür geöffnet zu haben.
    »Es tut mir leid«, begann Gennie, »ich bin ein wenig durcheinander gewesen, nicht wahr? Möglich, dass ich kaum länger als eine Stunde draußen war. Aber es schien mir wie eine Ewigkeit. Ich heiße Gennie.«
    Grant hakte die Daumen in seine Hosentaschen und runzelte wieder die Stirn. »Campbell«, erwiderte er, »Grant Campbell.« Das war alles, und sein Blick wurde auch nicht freundlicher.
    Gennie versuchte nun, das Gespräch neu zu beginnen. »Mr. Campbell – ich kann Ihnen gar nicht beschreiben, wie erleichtert ich war, als ich in der Dunkelheit ein erleuchtetes Fenster entdeckte.«
    Grant betrachtete Gennie genau und überlegte, warum ihr Gesicht ihm bekannt erschien. »Die Abzweigung zum Lawrence’schen Grundstück liegt mehr als eine Meile zurück.«
    Erstaunt über den Ton seiner Worte zog Gennie eine Augenbraue hoch. Sollte das tatsächlich heißen, dass er sie in die Nacht zurückschicken wollte? Im Allgemeinen war sie stolz auf ihre Ruhe und Beherrschung, aber jetzt fror sie in den nassen Kleidern, und Grants finstere Miene gab ihr den Rest. »Hören Sie, ich möchte Ihnen eine Tasse Kaffee abkaufen und für den Rest der Nacht dieses Sofa benutzen.«
    »Ich nehme keine Pensionsgäste.«
    »Und wahrscheinlich würden Sie einem kranken Hund noch einen Tritt verpassen, wenn er Ihnen über den Weg liefe!«, entfuhr es Gennie. »Aber ich denke nicht daran, jetzt wieder hinauszugehen in das Unwetter, und ich möchte Ihnen nicht raten, mich mit Gewalt vor die Tür zu setzen.«
    Ihre Worte belustigten Grant, doch sein Gesicht blieb unbewegt. Er wehrte sich nicht gegen Gennies falsche

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