Bei Tag und bei Nacht
eben nicht jedermanns Sache. Er hatte es zwar ungern getan, aber er hatte sie aufgenommen. Der Bademantel war trocken und warm, und Gennie genoss die heiße Suppe. Langsam beruhigte sich ihr verletzter Stolz.
Mit einem kleinen Seufzer ließ Gennie den Blick über den Tisch wandern, bis er an Grants Händen haften blieb. Gütiger Himmel, dachte sie erstaunt, was hat er für schöne Hände! Die schlanken Gelenke wirkten nicht etwa zerbrechlich, sondern rassig, kraftvoll und stark. Die sonnengebräunten Handrücken und die langen Finger erschienen Gennie maskulin und ausdrucksstark.
Einen Augenblick lang vergaß sie den Rest ihres Gegenübers vor Begeisterung angesichts seiner Hände. Und weil sie erstaunt über ihre eigenen Empfindungen war, fühlte sie eine Regung, unterdrückte sie aber. Wahrscheinlich würde sich jede Frau bei diesem Anblick fragen, wie sich das Streicheln der geschmeidigen Finger auf der nackten Haut anfühlte. Ungeduldige Hände – Hände, die einer Frau die Kleider vom Leib reißen oder sie sehr behutsam ausziehen konnten, noch ehe sie sich dessen bewusst war.
Als Gennie merkte, dass ein Prickeln ihr über den Rücken lief, riss sie sich zusammen.
Da sie sich ihrer Erregung bewusst war, hob sie leicht verlegen den Blick. Grant hatte Gennie kühl und sachlich wie ein Wissenschaftler beobachtet. Es war ihm nicht entgangen, dass sie bei der Betrachtung seiner Hände das Essen unterbrochen hatte. Leider verbargen die langen Wimpern den Ausdruck ihrer grünen Augen. Grant wartete geduldig. Er wusste, dass sie früher oder später aufschauen würde. Er war auf eisigen, ablehnenden Zorn oder frostige Höflichkeit in ihren Augen gefasst. Die Benommenheit in ihren Zügen verwirrte ihn, besser gesagt, sie machte ihn neugierig. Das beinahe schmerzhafte Verlangen nach ihr wurde durch die deutliche Verwundbarkeit noch stärker. Als sie vorhin in sein Haus gestolpert war – nass und erschöpft –, war sie ihm nicht so wehrlos erschienen. Was könnte sie wohl tun, wenn er sie jetzt an sich reißen würde? Wie zum Teufel kam er auf solche Gedanken?
Sie starrten einander an. Jeder kämpfte mit höchst unerwünschten Gefühlen. Währenddessen trieb der Sturm den Regen klatschend gegen die Fenster und schirmte ihre Welt gegen die übrige Zivilisation ab. Grant dachte wieder, dass sie wie eine dem Meer entstiegene Versuchung ausschaute. Gennie war sicher, dass er es mit ihrem seeräuberischen Vorfahren hätte aufnehmen können.
Die Stuhlbeine kratzten gegen den Fußboden, als Grant sich erhob. Gennie schreckte zusammen.
»Das Gästezimmer liegt auf dem zweiten Absatz.« Der Ausdruck seiner Augen war hart und verhalten vor Ärger über sich selbst.
Gennie fühlte, dass ihre Hände vor Nervosität feucht waren, und das machte sie wütend.
»Das Sofa reicht mir absolut«, entgegnete sie kühl.
Er zuckte mit den Schultern. »Wie Sie wünschen.« Ohne ein weiteres Wort verließ er die Küche.
Gennie wartete, bis Grants Schritte auf der Treppe verklangen. Wenn ich noch einmal im Dunkeln ein Licht sehe, schwor sie sich, dann lauf ich, so schnell ich nur kann, in die entgegengesetzte Richtung!
2. K APITEL
Grant hasste es, wenn man ihn störte. Er tolerierte Verwünschungen, Drohungen und Missachtung, aber er verabscheute jede Art der Unterbrechung. Solange er denken konnte, hatte sein Vater sich um die Gunst anderer Menschen bemühen müssen, weil dies eine Notwendigkeit für die Karriere eines Senators war, dessen Ziel darin bestand, das höchste Amt des Landes zu bekleiden.
Einige liebten den Politiker Campbell, anderen war seine Person verhasst. Auf Wahlreisen verstand er es, seine Mitarbeiter zu erstaunlichen Leistungen zu bewegen. Stets war Grants Vater bereit, sich für andere Menschen einzusetzen. Senator Robert Campbell war ein Mann, der es als seine Pflicht ansah, sich der Öffentlichkeit zu stellen, bis drei Revolverkugeln dem plötzlich ein Ende machten.
Grant hatte nicht allein dem Attentäter oder der politischen Berufung die Schuld gegeben, auch seinem Vater selbst galten seine bittersten Vorwürfe. Robert Campbell hatte sich der Menschheit verschrieben, die ihn letztlich tötete. Wahrscheinlich war dies der Grund, warum Grant es vorzog, für sich allein zu leben.
Er betrachtete den Leuchtturm nicht als Zufluchtsort, sondern als seine Wohnung – sein Heim. Der Abstand zu anderen Menschen gefiel ihm, und er genoss die Rauheit und Harmonie der Elemente. Seiner Arbeit und ihm selbst tat die
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