Bei Tag und bei Nacht
Bilderbüchern der Enkelkinder. Das schmale Gesicht mit der festen Kinnlinie und den betonten Wangenknochen macht einen guten Eindruck. Wenn sie lächelt, dann strahlen die blaugrünen Augen wie das Meer in der Sonne. »Hierher kommen nicht viele Feriengäste«, entgegnete er schließlich, »und schon gar nicht zu dieser Jahreszeit.«
Gennie wusste, dass er bestimmt keine neugierigen Fragen stellen würde. Doch wenn es ihr nützlich erschien, dann konnte sie mitteilsam sein.
Sie sah ihm direkt in die Augen. »Da haben Sie wohl recht. Ich glaube nicht«, sagte sie ruhig, »dass ich als Feriengast zu bezeichnen bin, Mr. …«
»Fairfield – Joshua Fairfield.«
»Genevieve Grandeau.« Sie reichte ihm die Hand zu einem angenehm festen Händedruck, wie er zufrieden bemerkte.
»Ich bin Künstlerin und möchte eine Zeit lang hier malen.«
Eine Künstlerin also! Er überlegte weiter. Gegen Bilder hatte er nichts einzuwenden. Als Hobby ließ er die Malerei gelten, aber er bezweifelte, dass man sich damit tatsächlich den Lebensunterhalt verdienen könnte. Trotzdem – die junge Dame hatte ein sehr gewinnendes Lächeln, und sie hielt sich stolz und aufrecht.
»Möglicherweise weiß ich ein kleines Haus«, meinte er. »Es liegt aber ungefähr zwei Meilen außerhalb der Ortschaft.«
Der Schaukelstuhl ächzte, als er sich schneller vor- und rückwärts bewegte. »Die Witwe Lawrence hat’s noch nicht verkauft. Vielleicht vermietet sie es Ihnen.«
»Das klingt vielversprechend. Wo kann ich sie erreichen?«
»Gehen Sie einfach über die Straße in die Poststelle.« Er deutete mit dem Finger in die Richtung. Nach einigem Zögern fügte er hinzu: »Sagen Sie ihr, dass ich Sie geschickt habe.«
Gennie lächelte ihm zu. »Vielen Dank, Mr. Fairfield.«
Im Postbüro sah Gennie eine Frau in dunklem Baumwollkleid hinter dem Tresen stehen und Briefe sortieren.
Das muss die Witwe Lawrence sein, dachte Gennie mit Vergnügen und bestaunte die sorgsam aufgesteckten Zöpfe am Hinterkopf der Frau, die sich durch ihr Eintreten nicht stören ließ.
»Entschuldigen Sie bitte! Sind Sie Mrs. Lawrence?«
Die Angesprochene unterbrach ihre Tätigkeit und drehte sich um. Ihr Blick wanderte prüfend über Gennies Gestalt. »Kann ich Ihnen behilflich sein?« Sie trat näher.
»Ich hoffe es. Mr. Fairfield sagte mir, dass Sie vielleicht ein Häuschen zu vermieten hätten.«
Die Frau hob erstaunt eine Augenbraue. »Das Haus steht zum Verkauf.«
»Ja, das weiß ich.« Gennie versuchte es wieder mit ihrem allerschönsten Lächeln. Sie wollte hierbleiben, und die zwei Meilen Entfernung vom Ort erschienen ihr geradezu ideal. »Besteht die Möglichkeit, dass Sie es mir für ein paar Wochen vermieten? Ich kann Ihnen Referenzen geben, wenn Sie Wert darauf legen.«
Mrs. Lawrence studierte Gennie mit kühlem Blick. Sie bildete sich lieber ihr eigenes Urteil. »Wie lange wollen Sie bleiben?«
»Einen Monat, vielleicht sechs Wochen.«
Jetzt betrachtete sie Gennies Hände. Ein schlichter goldener Ring blitzte an der linken Hand auf.
»Sind Sie allein?«, forschte sie.
»Ja.« Gennie lächelte wieder. »Ich bin nicht verheiratet, Mrs. Lawrence. Ich reise für mehrere Monate durch New England und male. Hier in Windy Point möchte ich eine Weile arbeiten.«
»Sie malen?« Die Witwe unterzog Gennie erneut einer kritischen Prüfung.
»Ja.«
Mrs. Lawrence hatte inzwischen festgestellt, dass sie Gennie leiden mochte. Die Fremde redete nicht andauernd und blieb bei der Sache. Dazu kam, dass ein leeres Haus nichts taugte. »Es ist sauber dort, und die Installation funktioniert.« Offensichtlich war die Entscheidung zu Gennies Gunsten gefallen. »Vor zwei Jahren wurde das Dach neu gedeckt, allerdings hat der Ofen seine Launen. Von den zwei Schlafzimmern ist eines unmöbliert.«
Gennie spürte, dass die Beschreibung Mrs. Lawrence nicht leichtfiel, obwohl ihre Stimme fest blieb.
Sie dachte sicher an all die Jahre, die sie dort gelebt hatte.
»Nachbarn gibt es keine«, fuhr Mrs. Lawrence fort, »und das Telefon ist nicht mehr angeschlossen. Doch das ließe sich machen, wenn Sie es wünschen.«
»Das alles klingt wundervoll, Mrs. Lawrence.«
Aus Gennies Ton klang Mitgefühl und Sympathie. Die ältere Frau räusperte sich. Dann nannte sie eine Summe als monatliche Miete. Der Betrag war wesentlich geringer, als Gennie erwartet hatte. Nun zögerte sie keinen Moment länger.
»Ich nehme es.«
Erstaunen lag in Mrs. Lawrences Blick. »Sie wollen es nicht
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