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Beifang

Titel: Beifang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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dieser andere Mann ihn beobachteten, als warteten sie darauf, dass er genau so etwas tun werde: davonlaufen oder ausrasten.
    »Ich war vielleicht zwölf damals«, sagte er, mit einer Stimme, die im ersten Beginnen beiläufig und dann gleich wieder aufgebracht klang, »was soll ich da noch wissen, bald siebzig Jahr ist das her, und dann diese Juden! Das geht mich doch nichts an, warum die dort waren, ich hab sie nicht eingeladen … Und dann hat es Streiche gegeben, Streiche von Kindern...« Er wandte sich Berndorf zu. »Ja, das war so, zu meiner Zeit haben Kinder noch Streiche gemacht, und dann hat man zum Vater müssen, und der hat den Lederriemen geholt, das war auch nicht lustig …«
    »Du sollst es ihm erzählen«, beharrte sein Bruder.
    Der Ältere sah ihn an, mit einem aus Hass und Erstaunen gemischten Ausdruck. »Da hat einmal ein Stein eine Frau getroffen, und sie hat geschrien und sich das Auge gehalten, und irgendwer
hat gesagt, den Stein, den hätt ich geschmissen, aber wieso soll ich das gewesen sein? Da waren noch andere Kinder, und diese Frau, die ist doch gelaufen, die ist in den Stein hineingelaufen, sonst hätt sie der gar nicht getroffen.«
    »Wer hat gesagt«, fragte Berndorf, »dass Sie das waren?«
    Niko Walleter hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Woher soll ich das noch wissen? Irgendwer hat das gesagt.«
    »War Marianne Gaspard dabei? Hat sie das gesagt?«
    »Weiß nicht.« Er nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen. »Doch. Kann sein. Eine Frau kam mit dem Rad und ist abgestiegen und fast mit dem Rock in der Kette hängen geblieben dabei, und hat uns angeschrien, wir hätten der Frau das Auge eingeschlagen … Ich glaube, das war die Marianne, die uns angeschrien hat. Die hat immerzu den anderen geholfen.«
    »Und was war dann?«
    »Weiß ich nicht mehr.« Er setzte die Brille wieder auf. Seine Augen sahen jetzt wässerig aus und gerötet. »In der Schule hat es geheißen, ein Nikolaus Walter hätt das gemacht. Aber einen Walter gab es nicht an der Schule, und schon gleich gar keinen Nikolaus Walter, und der Schulleiter hat gesagt, da sehe man es wieder, dass man den Juden nichts glauben darf, und wenn wir einen treffen, dann soll der Luft für uns sein, und wir sollen nicht mit ihm reden und schon gar nicht grüßen und überhaupt nicht beachten … Aber der Vater hat’s gehört, ich weiß nicht, von wem, vielleicht von den Gretingers, und hat gleich den Lederriemen geholt...«
    »Warum?«, fragte Berndorf.
    Niko Walleter sah ihn verständnislos an.
    »Was hat Ihren Vater so erbost? Einen Stein auf eine alte Jüdin werfen - was war schon dabei, damals?«
    »Ja gut, ich versteh schon, was Sie meinen.« Unvermittelt hatte sich eine ungesunde Röte über Walleters Gesicht gezogen. »Aber der Vater, der hätt mich auch geschlagen, wenn alle anderen Steine geschmissen hätten, nur ich nicht. Ich weiß noch, dass er mir gesagt hat, ich solle mir die Prügel merken, nur für den Fall, dass einer mal danach fragt.«

    »Ihr Vater scheint ein weitsichtiger Mann gewesen zu sein«, meinte Berndorf. »Jedenfalls für seine Zeit.« Er sah sich um. In der Werkstatt waren weitere Baum- und Wurzelstöcke gelagert, einige von ihnen waren bereits als verzerrte, gespenstische Köpfe ausgehauen. Sollte er dem Holzschnitzer Walleter sagen, dass das seine eigenen Geister seien, nicht die der Bäume? Aber er musste einem 80jährigen nicht die Hölle erklären, die dieser sich eingerichtet hatte, und so fragte er nur nach jener Hannelore Gretinger, die Marianne Gaspards Lehrling gewesen sein sollte. Lebte sie noch?
    »Unten im Dorf«, antwortete der ältere Bruder, »sie hat nie geheiratet. Aber warum müssen Sie …«
    Berndorf schüttelte den Kopf. »Ich frag sie nicht nach Ihnen. Ihre Geschichte müssen Sie schon mit sich selbst austragen und mit Ihren Holzköpfen.«
    Er nickte dem Holzschnitzer zu und ging. Wendel Walleter folgte ihm, schweigend, und schweigend stiegen beide in den Daimler.
    »Hat Ihr Großes Buch nichts zur Bruderliebe parat?«, fragte Berndorf, als Walleter aus dem Hof zurückgestoßen war.
    »Hätt ich sollen meines Bruders Hüter sein?«, antwortete Wendel Walleter unfromm. »Wie denn? Er ist zwölf Jahre älter als ich. Aber wenn Sie partout etwas hören wollen... Bitte: Wer da sagt, er sei im Licht, und hasst seinen Bruder, der ist noch in der Finsternis.«
    »Wann hat Ihr Bruder mit dem Holzschnitzen angefangen?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Walleter. »Spät.

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