Beifang
Jahr des Dritten Reiches, eine Tagung zur jüdischen Erwachsenenbildung geleitet hatte.
Das tue er gerne, sagte Thurner. »Man kann es sich auch fast nicht vorstellen. Da hatte sich - wie soll ich sagen? - mitten im Mahlstrom des Untergangs eine Insel aufgetan, für drei Tage nur, und auf dieser Insel hat sich eine Gruppe von Menschen zusammengefunden, um über den richtigen Weg zur Geistesund Herzensbildung zu sprechen, fern vom Gebrüll des Hasses und der Volksempfänger …«
Sie fuhren wenige hundert Meter die abschüssige Straße hinunter, dann hielten sie vor einem Anwesen, einer spitzgiebligen Villa, die unter Bäumen verschwand.
»Das da ist die Rommel-Villa«, sagte Walleter, als er den Daimler am Straßenrand abstellte.
»Ja, die Familie Rommel hat hier gewohnt, von 1943 bis 1945, das Anwesen ist ihr zur Verfügung gestellt worden«, sagte Thurner. »Aber für uns ist es eben auch das Martin-Buber-Haus, und es gehörte einmal zum jüdischen Landschulheim. Ich weiß nicht …«
Er sprach den Satz nicht zu Ende, und Berndorf dachte, dass es zu diesem Satzanfang viele Fortsetzungen gebe. Eine davon wäre die Frage gewesen, was sich ein Generalfeldmarschall des Deutschen Reiches gedacht haben mochte, als man ihm als Wohnsitz ein Haus zuwies, das der Staat dem rechtmäßigen jüdischen Eigentümer gestohlen hatte? Nun ja, das Geschenk war ohnehin ein vergiftetes gewesen.
Thurner öffnete umstandslos das Tor der Villa und führte Berndorf zu einer alten hochragenden Linde, um die herum ein mit Steinplatten ausgelegter Platz angelegt war. Hier, so sagte Thurner, habe Martin Buber im Mai 1934 mit seinen Hörern diskutiert …
Aber es war eben nicht Mai, die Linde war noch kahl, und es fröstelte Berndorf. Er hatte das unangenehme Gefühl, Andacht empfinden zu sollen. Das lag ihm nicht, und so fragte er aufs Geratewohl, ob es einen Fußweg hinüber zu dem Wohngebiet gebe, das bereits im Tal der Kleinen Lauter liegt.
»Oberhalb der Villa ist ein Weg«, sagte Walleter. »Zu Fuß sind es keine zehn Minuten, als Kinder...« Er sprach nicht weiter.
Für einen Augenblick runzelte Berndorf die Stirn, dann blickte er fragend zu Thurner.
»Er hat recht«, sagte der, »es sind nur ein paar Minuten. Ich begleite Sie gerne, wenn es Sie nicht stört...« Dann wandte er sich an Walleter. »Jetzt muss ich aber doch noch einmal nach Ihrem Namen fragen - Walter, habe ich das richtig verstanden?«
»Nein«, antwortete Walleter grob. »Wall - eter. Aber das passiert uns immer wieder mal.«
»Uns?«, fragte Berndorf.
»Ja«, kam die Antwort. »Zum Beispiel auch meinem Bruder. Meinem älteren Bruder. Der Herr Pfarrer -« mit einer fast ärgerlichen Handbewegung wies er auf Thurner - »hat vorhin doch davon erzählt.«
F ür das Päckchen war eine kleinformatige, mit Kunststoff gepolsterte Brieftasche verwendet worden, die vom Inhalt ein wenig ausgebeult war. Die Adresse war von Hand geschrieben, in einer gut lesbaren, unverstellten Schrift, als Absender war M. Rauth angegeben. Kuttler öffnete den Verschluss, ein handtellergroßes, silbrig schimmerndes Mobiltelefon rutschte heraus und fiel auf die Schreibtischplatte. Weiter enthielt die Brieftasche nichts.
Kuttler hätte jetzt die Spurensicherung anrufen müssen, gewiss doch. Tatsächlich zog er seine Schreibtischschublade auf, holte ein Paar Kunststoffhandschuhe heraus und zog sie an.
Gestern noch hatte er dem Pudelmann einen größeren Vortrag darüber gehalten, dass er - Kuttler - erstens jederzeit die ganz große Fahndung lostreten könne und dass das Handy zweitens nach der Enttarnung des Schwarzwälder Landrats zu nichts mehr gut sei als dazu, schleunigst der Polizei ausgehändigt zu werden, als strafmilderndes Zeichen des guten Willens für den Fall, dass es in Frankreich doch nicht so besonders lustig werde für Herr und Hund... Was man so redet, wenn einer nichts in der Hand hat und dumm in einem Auto sitzt und von irgendwoher beobachtet wird. Der Pudelmann hatte schließlich versprochen, das Handy zur Post zu geben, und im Gegenzug hatte Kuttler hoch und heilig geschworen, zu vergessen, wer der Pudelmann sei...
Aber hatte sich der Pudelmann wirklich daran gehalten? Kuttler versuchte, das Mobiltelefon einzuschalten. Tatsächlich reagierte das Gerät mit einem kurzen Vibrieren, dann leuchtete das Display auf. Kuttler konnte das Menu aufrufen, ohne eine Geheimzahl eingeben zu müssen; also war es ein Gerät, das mit Prepaid-Karten betrieben wurde.
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