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Being

Titel: Being Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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erinnere ich mich an Dinge.
    Ich erinnere mich an eine Stimme von vor langer Zeit. Eine Frauenstimme.
    »Oh, der hier ist ja ein richtiger Schnellheiler«, erinnere ich mich an ihre Worte. »Jawohl, ein Schnellheiler …«
    Ich erinnere mich nicht, wer sie war oder was sie für mich war.
    Aber sie hatte recht. Ich bin wirklich ein Schnellheiler. Schnittwunden, Schrammen, blaue Flecken … bei mir ist alles sehr schnell verheilt. Schnell und sauber.

    Ich zog mir die Sachen an, die ich im Supermarkt gekauft hatte – Unterwäsche, Hose, Hemd, Jacke, Schuhe –, räumte den Inhalt von Ryans Jacke in meine neue und stopfte die alten Sachen in |70| meinen Rucksack.
    Ein letzter Blick in den Spiegel, dann drückte ich die Klospülung und ging.

    Während der Zug durch die Dunkelheit ratterte und summte, starrte ich aus dem Fenster und versuchte, über einiges nachzudenken. Was tat ich eigentlich gerade? Wo wollte ich hin? Verdammt noch mal, was ging hier vor? Aber ich konnte es einfach nicht. Alles war zu groß. Zu verwirrend. Zu viel, um drüber nachzudenken. Und ich war so müde. Ich wollte nur noch die Augen schließen und wegdriften … bloß für einen Moment …
    Ich schloss die Augen.

    Als ich aufwachte, wusste ich nicht, wo ich war. Der Zug hatte an einem Bahnhof angehalten, jetzt stand er nur da – summend und murmelnd, zischend und stöhnend – und fuhr nirgendwohin. Ich sah hinaus auf den Bahnsteig. Es standen nicht viele Leute herum. Keine Bahnhofsangestellten. Keine Uniformierten. Keine Männer in Anzügen. Ich schaute mich nach einem Bahnhofsschild um, konnte jedoch keines finden.
    Der Zug ächzte einen Moment, irgendetwas zischte … dann wurde wieder alles still.
    Ich saß ein, zwei Minuten da und horchte auf die tickende Stille, schließlich stand ich auf, lief den Gang entlang und stieg aus dem Zug.

    Als ich den Bahnhof verließ und loslief, wusste ich immer noch nicht, wo ich war. Ich glaube, es könnte Romford oder Ilford gewesen sein, irgendwas in der Gegend, eins von diesen -fords jedenfalls. |71| Irgendwo außerhalb von London, aber nicht
in
London. Nicht dass es eine Rolle spielte. Wenn nicht mal ich wusste, wo ich war, konnte wohl auch kein anderer über meinen Aufenthaltsort Bescheid wissen.
    Auf den Straßen um den Bahnhof herum war viel los. Autos, Taxis, Busse, Lieferwagen, Laster, Motorräder, Fahrräder. Die Leute waren unterwegs, hatten ihre Ziele. Sie gingen nach Hause, gingen aus, gingen irgendwohin.
    Niemand scherte sich um mich.
    Warum sollten sie?
    Ich hielt den Kopf gesenkt und ging weiter. Auf breiten Bürgersteigen aus grauweißem Beton, an geschlossenen Läden, lauten Pubs und schmierigen Kebabbuden vorbei. An Bushaltestellen und Nachtklubs, Taxiständen, Weinlokalen …
    Ich blieb in Bewegung, lief immer weiter.
    Raus aus dem Stadtzentrum, hinein in die Außenbezirke. Vorbei an schwarz verglasten Bürokästen und Freizeitzentren, an Bettlern, an Skateboardern und an Mädchen, die sich für den Abend aufgedonnert hatten …
    Ich lief.
    Die Schmerzen ließen nach, wurden zu normalen Magenschmerzen.
    Der Regen fiel weiter.
    Ich lief weiter.
    In die Nacht.
    Ich lief eine lange Zeit.
    Bis ich schließlich, nachdem ich eine Ewigkeit gelaufen war, das Paradies erreichte.

|72| Sechs
    D as Hotel Paradise war ein siebenstöckiger Kasten aus tristem grauem Beton in einem Vorort einer tristen grauen Stadt. Ich wusste nicht, wie ich dorthin gekommen war, und ich wusste auch nicht, ob es eine gute Idee war, dort ein Zimmer zu nehmen. Doch ich war hundemüde und nass, mein Bauch tat weh und ich konnte einfach nicht mehr laufen. Aber vor allem musste ich endlich allein sein. Ich musste anfangen nachzudenken. Ich musste etwas tun.
    Ohne allzu viele weitere Überlegungen öffnete ich die Hoteltür und ging hinein.

    Es war ein ziemlich großer Kasten und ziemlich elegant. Rauchglastüren, eine Lobby mit dunklem Teppichboden, Säulen, Holztäfelung und Pflanzen in Messingübertöpfen. Am andern Ende der Lobby gab es eine Bar und auf der einen Seite ein Restaurant. In beiden war ziemlich viel los. Männer in Anzügen, Frauen in Kostümen, und alle tranken und amüsierten sich.
    Ich fühlte mich fremd.
    Ich war noch nie in einem Hotel gewesen. Ich wusste nicht, was ich tun musste. Ich kannte den Ablauf nicht. Also blieb ich ungefähr |73| fünf Minuten im Eingangsbereich stehen – warf ab und zu einen Blick auf meine nicht vorhandene Armbanduhr, als ob ich auf jemanden wartete – und

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