Being
sah.
Ich schaute mich um. Der Regen fiel jetzt stärker, schimmerte weiß in der nüchternen Bahnhofsbeleuchtung und ließ alles hart und unwirklich erscheinen: den trüben Silberglanz der Schienen, zugemüllt mit Haufen von benutzten Taschentüchern; das sprießende gelbe Unkraut, das in den dunklen Fugen von Bögen und Wänden vor sich hin tröpfelte; rote Türen, blaue Türen, den Sand und Dreck der Bahnhofsumgebung.
|67| Ich fragte mich, ob das alles hier eine Illusion war. Die ganze verrostete Eisenbahnmaschinerie, die Leitungen und Verstrebungen, die verriegelten Schuppen, die Coladosen und Chipstüten, die mysteriösen Zahlen, die entlang der Gleise auf die Mauern gemalt waren … alles schien ausreichend wirklich, doch was, wenn es anders war? Was, wenn mit mir etwas nicht stimmte? Was, wenn ich Dinge sah, die gar nicht existierten? Wie sollte ich das merken? Wie könnte ich den Unterschied erkennen? Es konnte alles eine Illusion sein – ich, das Krankenhaus, Ryan, Casing, Kamal …
Die Schienen fingen an zu singen.
Ich schaute auf und sah die Lichter eines herannahenden Zugs. Ich erhob mich und beobachtete, wie er in den Bahnhof einfuhr. Er ratterte und bremste … ratterte und bremste … und kam schließlich zum Stehen. Ich warf einen Blick hinein, hielt Ausschau nach unwillkommenen Gesichtern, dann öffnete ich die Tür, stieg ein und suchte als Erstes nach einem Klo.
Der Zug stöhnte –
pischhh
–, dann wurde sein Klang metallisch und er rumpelte langsam aus dem Bahnhof. Im Innern der klappernden Toilettenkabine ließ ich einen langen, pfeifenden Furz raus und leerte meine Blase. Die Toilettenschüssel war mit cremeweißem Papier vollgestopft. Ich stand da, pinkelte lange, hielt mich mit einer Hand an der Wand fest, und als ich fertig war, fühlte ich mich gewichtslos, leer und hungrig. Mein Urin roch unangenehm. Ich roch unangenehm. Sauer und schweflig, wie der Geruch einer fremden Person.
Ich wusch mir die Hände und betrachtete mich im Spiegel über dem Abfluss. Das Glas war gesplittert und trüb und mein Spiegelbild wirkte verschmiert und unvertraut. Ich begrüßte mich.
|68| »Hallo, Robert.«
Es war gut und auch schlecht, wieder allein zu sein.
Ich rieb mit dem Finger ein bisschen heißes Wasser ins Zahnfleisch und auf die Zähne, dann beugte ich mich vor und würgte ins Waschbecken. Es kam nichts, außer irgendwas Spuckeähnlichem, das in schimmernden Fäden an meinen Lippen klebte. Ich wischte es mit dem Handrücken ab und spülte den Mund unter dem Wasserhahn aus. Das Wasser schmeckte nach Metall. Ich rülpste, dann hob sich mein Magen und ich erbrach mich.
In diesem Moment war mir nach Heulen zumute. Ich hatte solche Angst, ich war so krank, so verwirrt … so alles. Es war zu viel, das Ganze, zu viel, um drüber nachzudenken … ich wollte über nichts
nachdenken
. Ich wollte einfach nur heulen, unkontrolliert, wie ein verloren gegangenes Kind, das nach seiner Mutter schluchzt … doch ich konnte nicht.
Ich kann nicht.
Ich konnte noch nie weinen. Wann immer mir nach Weinen zumute ist, passiert etwas mit mir – eine Tür schlägt zu, die Lichter gehen aus, ich verschwinde.
Ich holte die Flasche Wasser aus meinem Rucksack und spülte wieder und wieder den Mund aus – ausspülen, spucken, ausspülen, spucken, ausspülen, spucken –, bis ich nur noch den klaren Geschmack des Wassers schmeckte. Ich betrachtete mich von Neuem im Spiegel. Was ich sah, war nur ein Gesicht – bleich, müde, verwirrt –, aber immer noch bloß ein Gesicht. Ich schniefte, spie einen letzten Schleimbatzen in den Abfluss, dann zog ich mich aus.
|69| Ich fühlte mich nicht wohl dabei, nackt in diesem stinkenden kleinen Klapperkäfig zu stehen … nackt, frierend und krank. Es wirkte schmuddelig und verkehrt und gab mir so ein Gefühl, als würde ich mich nicht mehr kennen.
Ich starrte hinab auf meinen Körper.
Es sah eigentlich gar nicht so schlimm aus – ein bogenförmiger, tiefer schwarzer Schnitt, eine gerötete Wunde. Rosa. An manchen Stellen auch weiß. Blutergussbraun und schmutzig gelb. Eine leichte Schwellung. Sie heilte schnell …
ich
heilte schnell.
Der größte Teil meiner frühen Kindheit existiert nur verschwommen. Die Erinnerungen sind zwar da, aber sie bedeuten mir nichts. Da sind unbekannte Menschen und unbekannte Orte. Gesichter, Stimmen. Häuser, Heime. Harte Holzstühle, quietschende Fußböden, der Geruch nach Desinfektionsmitteln. Nichts davon bedeutet mir etwas.
Und doch
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