Beinssen, Jan
Gabriele. »Ich weiß allmählich nicht mehr, wem ich trauen kann und wem nicht.«
Sina wollte widersprechen, ihrer Freundin gehörig die Meinung sagen. Aber dazu kam sie nicht. Voller Schrecken sah sie durch ihr Fernglas, wie die Hoteltür plötzlich aufgerissen wurde. Klaus erstarrte zur Salzsäule, als ihm unvermittelt eine hochgewachsene Person gegenüberstand. Der Ire! »Oh mein Gott!«
»Was ist?« Auch Gabriele konzentrierte sich schnell wieder auf das Geschehen vor der Akademie. »Haben sie ihn …? Ja, sie haben ihn erwischt!«
Die nackte Angst packte Sina, als sie mit ansehen musste, wie der kräftige Ire Klaus am Handgelenk griff. Ehe dieser sich versah, wurde er ins Innere des Gebäudes gezogen. Gleich darauf schloss sich die Tür hinter ihm.
»Die werden ihn umbringen!«, stieß Sina voller Verzweiflung aus.
»So ein Dummkopf. Bei seinem laienhaften Verhalten konnte er nichts anderes erwarten«, meinte Gabriele, der der Vorfall nicht wirklich ans Herz ging.
»Aber Gabi!«, appellierte Sina an ihr Mitgefühl. »Wir müssen ihm helfen! Jetzt! Sofort!«
Friedhelm, der sich auf dem Rücksitz bis eben ruhig verhalten hatte, hustete in seine Faust. »Ich kann meiner Schwester nur beipflichten. Klaus hat nichts anderes verdient. Außerdem … bin ich nicht zum Helden geboren.«
Sina mochte kaum glauben, was sie hörte: »Ist das euer Ernst? Wollt ihr wirklich tatenlos zusehen, wie sie mit Klaus sonst was anstellen? In Kauf nehmen, dass sie ihn foltern und gar töten?« Mit geweiteten Pupillen sah sie abwechselnd Gabriele und deren Bruder an.
Gabriele ließ das unbestreitbar befriedigende Gefühl darüber, dass Klaus in der Klemme saß, einige wohltuende Momente auf sich wirken. Dann verscheuchte sie all die niederen Triebe und Rachegelüste: »Nein«, sagte sie entschlossen. »Wir werden ihn nicht im Stich lassen.«
Sina atmete auf. »Danke, Gabi.«
Gabriele nickte ihr aufmunternd zu. Dann gab sie präzise Anweisungen für das weitere Vorgehen: »Friedhelm, du bist wahrlich kein Held. Du nimmst den VW-Bus, fährst zur nächsten Telefonzelle und alarmierst die Polizei. Am besten lässt du gleich Kommissar Diehl persönlich aus dem Bett klingeln. Und du, Sina, du wirst mit mir zusammen in die Höhle des Löwen gehen. Wir wollen einige Unruhe stiften in der Akademie und die feine Gesellschaft dort aufschrecken. Damit gewinnen wir Zeit – hoffent
lich genügend, bis Friedhelm mit den Cops zurückkommt.«
Sina war nicht wohl bei der Vorstellung, gegen ihre Vorsätze doch noch einmal über die Schwelle der NHA zu treten. Aber sie wollte Klaus zu Hilfe kommen, und Gabrieles Vorschlag hatte Hand und Fuß. Es musste schnell gehen, wenn sie etwas ausrichten wollten. »Also gut«, sagte sie. »Machen wir es so.«
Auch Friedhelm signalisierte seine Zustimmung.
Sie warteten, bis der VW-Bus mit Friedhelm am Steuer außer Sichtweite war. Seite an Seite gingen sie auf die Akademie zu. Das Hotel, das bei Tageslicht betrachtet so harmlos aussah und in seinem braven 50er-Jahre-Stil jeder Aggressivität entbehrte, wirkte bei Nacht ganz anders. Das diffuse Licht ließ einzelne Fassendenteile bedrohlich hervortreten, andere verschwanden lauernd in der Dunkelheit. Das Runde, Geschwungene trat in den Hintergrund, dagegen stachen Kanten und scharfe Vorsprünge deutlich hervor. Es war, als würden sie sich einem Geisterhaus nähern, dachte Sina schaudernd.
Sie machten sich nicht die Mühe, sich zu verstecken oder ihr Näherkommen durch gelegentliches Deckungssuchen zur verbergen. Sie wollten die Aufmerksamkeit auf sich lenken, ganz bewusst. Während Gabriele gemessenen Schrittes, aber zielstrebig auf den Eingang zuging, merkte Sina, dass ihre Beine immer weicher wurden, je weiter sie kamen.
»Gleich schnappt der Ire uns auch«, wollte sie Gabriele warnen, doch sie brachte bloß ein kaum verständliches Flüstern zustande.
»Was sagst du? Reiß dich zusammen. Wir müssen jetzt stark sein«, wies sie Gabriele zurecht.
Sie erreichten den Eingangsbereich. Die Tür war unmittelbar vor ihnen. Unbewegt. Sina rechnete damit, dass sie in der nächsten Sekunde aufgestoßen würde. Doch nichts geschah. Furchtsam wandte sie sich an Gabriele: »Was nun? Sollen wir versuchen, ob wir sie öffnen können?«
Gabriele starrte auf den Türknauf. Sie war kreidebleich. Sie merkte, dass sie die Anweisungen, die sie ihrer jungen Freundin gerade noch erteilt hatte, selbst nicht befolgen konnte. Stark sein – das war in dieser Situation zu
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