Beinssen, Jan
den Kopf und nahm wieder ihr Fernglas zur Hand. Die Akademie stand nach wie vor still und friedlich im Halbdunkel. Aus einem der beiden Schornsteine in der Dachmitte stieg ein feiner grauer Rauch auf. Sonst tat sich nichts.
Abermals musste sie gähnen. Sie merkte, wie ihre Augen durch die Monotonie ihrer Beschäftigung und wohl auch durch die einsetzende Müdigkeit zu jucken begannen.
»Schlaf nicht ein«, ermahnte Gabriele sie.
»Nein, nein, keine Sorge. Ich …« Sina stockte mitten im Satz, als plötzlich ohne ein vorwarnendes Geräusch oder das Aufleuchten von Autoscheinwerfern eine große dunkle Limousine vor der Akademie vorfuhr.
Obwohl Sina die ganze Zeit auf genau diesen Moment gewartet hatte, war sie nun völlig überrumpelt. Sie stieß Gabriele an, deutete mit wilder Geste durch die Frontscheibe.
Auch Gabriele griff jetzt zum Fernglas. Der große Wagen war inzwischen zum Stillstand gekommen. Die Fahrertür öffnete sich. »Schnell. Wir brauchen den Fotoapparat«, sagte sie zu Sina. Dann kurbelte sie die Seitenscheibe herunter und rief mit gedämpfter Stimme: »Friedhelm! Schnell! Schmidbauer ist gerade angekommen!« Mit besorgtem Blick in Richtung des Gebäudes sah sie, dass nun auch die Beifahrertür der Limousine geöffnet wurde. Ein Mann mit dunklem Trenchcoat stieg aus und ging gemessenen Schrittes auf den Kofferraum zu: Kein Zweifel, es war Schmidbauer. »Friedhelm!«, rief sie erneut.
»Ich beeile mich ja«, kam endlich eine Antwort aus der Dunkelheit. »Aber die Prostata … bei mir kommt’s nur noch tröpfchenweise.«
»Oh Mann!«, stöhnte Gabriele und drehte sich um. Sie zerrte hektisch an der Fototasche ihres Bru
ders, die im hinteren Fußraum lag. »Dann müssen wir die Bilder eben selbst machen.«
Der Gurt der Tasche hatte sich an der Rückbank verhakt. Durch Gabrieles fahrige Bewegungen wurde er nur noch fester eingeklemmt. »Lass mich mal«, drängte Sina sie beiseite. Statt die ganze Tasche nach vorn zu holen, öffnete sie den Reißverschluss und nahm das Kameragehäuse heraus. Anschließend zog sie ein Teleobjektiv aus dem Futteral.
Gabriele hatte sich in der Zwischenzeit wieder das Fernglas geschnappt. »Jetzt hat er den Kofferraum geöffnet«, schilderte sie ihre Beobachtungen. »Er nimmt den Aktenkoffer heraus. Nun geht er auf den Eingang zu.« Sie sah zu ihrer Freundin hinüber. »Meine Güte, Sina, du musst schnell machen!«
»Ja, verdammt, ich weiß!« Sina hatte ihre liebe Not damit, den Bajonettverschluss des unhandlichen Objektivs in die Führungsschiene der Kamera einzufädeln.
»Noch fünf Meter bis zur Tür. Drei Meter … gleich ist er außer Sichtweite!« Gabrieles Stimme klang schrill.
Endlich gab der Verschluss einen Klicklaut von sich und war eingerastet. Sina hob die Kamera an, zoomte auf die Tür. Doch ehe sie auslösen konnte, hatte der dunkle Schlund des Eingangs Schmidbauer mitsamt seines brisanten Handgepäcks verschluckt.
»Versuch, ihn im Foyer zu erwischen«, schärfte Gabriele ihr ein. »Du musst durch die Scheiben fotografieren.«
Sina bemühte sich, die Kamera entsprechend auszurichten. Doch was sich bei ihren ersten Beobachtungen von Schmidbauers Botengang noch deutlich sichtbar vor ihren Augen abgespielt hatte, war heute Nacht im kaum beleuchteten Foyer des Hotels nicht zu erkennen. Sie starrte durch den Sucher der Kamera, den Finger über dem Auslöser gekrümmt – aber alles, was sie vor die Linse bekam, beschränkte sich auf nicht aussagekräftige Schattenspiele. Schmidbauer war nicht mehr zu erkennen. Geschweige denn sein Koffer.
»So, da bin ich.« Friedhelm war noch damit beschäftigt, seinen Hosenschlitz zu schließen, als er in gebückter Haltung in den Wagen stieg.
Die beiden Frauen sahen ihn mit vor Fassungslosigkeit halb geöffneten Mündern an.
Der Streit, der sich in den folgenden Minuten in dem VW-Bus anbahnte, verursachte bei Sina einen spontanen Anflug von Kopfschmerzen.
»Du bist so ein unbeschreiblich verblödeter Vollidiot, du Oberdepp!«, wetterte Gabriele gegen ihren Bruder. »Wegen dir und deiner Altherrenblase haben wir den entscheidenden Moment verpasst! Die Beweise, auf die wir schon den ganzen Abend warten!«
»Wenn ihr nicht fähig seid, eine Kamera zu bedie
nen, seid ihr selbst schuld«, gab Friedhelm gekränkt zurück.
»Aber du hättest sie ja wenigstens schon zusammensetzen können! Hattest doch die letzten Stunden genug Zeit dafür!«, blieb Gabriele hart.
»Davon hast du mir nichts gesagt«, verteidigte
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