Beiss mich - Roman
angeboten, mir vorzuführen, wie tadellos in Schuss sie für ihre neunundsiebzig Jahre waren, doch ich hatte jedes Mal dringende Termine vorgeschützt, um mir einen Ohnmachtsanfall zu ersparen. Mochten ihre Füße auch ein Paradebeispiel an Reinlichkeit darstellen, so konnte man das vom Rest ihres Körpers nicht behaupten. Ich hatte den Verdacht, dass sie nur badete, wenn ihre Cousine zum Kaffee kam, was höchstens alle drei Monate der Fall war. Dementsprechend roch sie alles andere als frisch, meiner Meinung nach auch der eigentliche Grund dafür, dass die Fußpfleger immer im Rekordtempo mit der Behandlung fertig wurden. Falls sie überhaupt täglich mit Wasser in Berührung kam, dann höchstens beim Kaffeekochen. Wenn man ihr unerwartet im Treppenhaus begegnete, tat man gut daran, ein paar Schritte Abstand zu halten.
Häufig lief unsere Nachbarin wochenlang in denselben Klamotten herum, und ihr Gebiss tat sie nur rein, wenn sie zur Fußpflege ging, vermutlich um sicherzustellen, dass die kleinen Scheißer ihre Anweisungen nicht missverstanden.
Grummelnd schob sie ihre Gehhilfe in den Aufzug, den üblichen strengen Geruch zurücklassend. Mich würdigte sie keines Blickes mehr, was mich nicht überraschte. Wenn sie überhaupt eine Unterhaltung anfing, dann nur über ihre Füße, über die kleinen Scheißer von Fußpfleger oder darüber, wie froh sie war, dass ihr Mann tot war. Mit solchen Nebensächlichkeiten wie Begrüßungs- oder Abschiedsfloskeln hielt sie sich gar nicht erst auf.
*
Die Party fing ganz normal an, wie all die vielen anderen, die hier seit meinem Einzug vor drei Jahren schon stattgefunden hatten. Die ersten Gäste trudelten kurz nach neun ein, die letzten kamen gegen zehn, denn es war abzusehen, dass die Feier nicht vor drei, halb vier zu Ende gehen würde.
Ich erinnerte mich an unsere letzte Silvesterparty; sie hatte bis frühmorgens gedauert. Solveig war schon um halb zwei im Bett gewesen (nicht allein, versteht sich), und ich hatte mich um vier Uhr in die Federn verkrochen (allein, versteht sich), nachdem ich zwei Mal auf dem Sofa eingenickt war. Doch eine Riege hartgesottener Nachtschwärmer hatte dafür gesorgt, dass die Stimmung nicht nachließ und der Sektvorrat nicht umkam. Irgendwann im Morgengrauen kam ein Typ an mein Bett getorkelt und rüttelte mich an der Schulter. »Tschüssi, ich geh dann jetzt auch heim.«
Ich weiß bis heute nicht, wer er war und ob ich ihn kannte. Immerhin hatte er noch die Umsicht besessen, die Reste vom Bleigießen zu entsorgen, die Aschenbecher auszuleeren und die leeren Flaschen in die Kiste zum Altglas zu stellen.
Auch heute war es nicht viel anders als sonst; mindestens die Hälfte der Gäste hatte ich noch nie gesehen. Für gewöhnlich überließ ich Solveig die Organisation solcher Feste, einschließlich der Einladungen, weshalb ich einen Großteil unserer Besucher auch nur vom Hörensagen kannte. Solveigs Bekanntenkreis zeichnete sich durch eine enorme Fluktuation aus, was unter anderem auch mit ihren häufig wechselnden Männerbeziehungen zusammenhing. Es gab eine Clique von ungefähr zehn Leuten, die zu jeder Party kamen und die man als unsere gemeinsamen Freunde bezeichnen konnte. Dazu kamen ein paar von ihren Kollegen aus der Filmfirma, eine bunt zusammengewürfelte Schar von Leuten aller Altersklassen, darunter Regisseure, Produzenten, Schauspieler, Marketingmenschen, Kameraleute. Die meisten von ihnen waren schon mal hier gewesen. Die Chefin einer Castingagentur, eine gebürtige Französin, hatte mich zu diesen Anlässen bereits mehrfach hartnäckig bearbeitet; sie wollte partout, dass ich bei ihr wegen einer Rolle vorstellig wurde. Es gebe immer wieder Parts, die auch für Anfänger infrage kämen, meinte sie. Ich würde beispielsweise eine hinreißende Leiche abgeben, und wann ich denn endlich mal vorbeikäme. Bis jetzt war meine Lage noch nicht so verzweifelt gewesen, dass ich mich zu derlei Leichtsinn hätte hinreißen lassen, denn alle Leute vom Film, die ich bislang kennengelernt hatte, zeichneten sich durch eine Gemeinsamkeit aus: Sie waren verrückt. Nicht so, dass man sie hätte einliefern lassen müssen (obwohl Solveig häufig das Gegenteil behauptete), aber doch immerhin auf eine Weise, dass man sie nicht öfter als nötig um sich haben mochte. Solveig hatte mich schon vor Jahren vor diesen Menschen gewarnt.
»Wenn du mit denen zurechtkommen willst, musst du so sein wie sie. Lügen, betrügen, saufen, kiffen, koksen, alles nageln,
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