Beiss mich - Roman
verabscheut. Ausgerechnet ihr Lieblingskomponist Beethoven war ihm ein Gräuel gewesen. Jetzt holte Frau Herberich alles in dieser Hinsicht Versäumte nach, vor allem nachts, wenn sie nicht schlafen konnte. Sie konnte häufig nachts nicht schlafen, und weil sie wie ihr Lieblingskomponist Probleme mit den Ohren hatte, ließ sie es richtig krachen.
Wir duldeten es zähneknirschend, denn unsere gelegentlichen zaghaften Einwände beschied sie immer mit der knappen Bemerkung, wir sollten uns bloß nicht wie blöde Hühner benehmen, die anderen Mieter würden sich ja auch nicht beschweren.
Dabei kam ihr entgegen, dass wir in der fünften Etage wohnten und sich über uns nur das Dach befand. Die beiden Wohnungen im vierten Stock waren an nicht minder lärmende Zeitgenossen vermietet; in der einen wohnten zwei schwule Studenten, die Frau Herberichs Musikgeschmack teilten und außerdem meist irgendwo in Urlaub waren, und die andere Wohnung war an ausländische Mitbürger vermietet, eine unübersichtliche Anzahl ständig wechselnder Leute, überwiegend schwarzhaarige junge Männer nahöstlicher Herkunft, die kaum auseinanderzuhalten waren. Sie kamen und gingen zu allen Tages- und Nachtzeiten und veranstalteten dabei oft einen Lärm, der mit Beethovens Neunter leicht mithalten konnte. Einmal war es so laut gewesen, dass Leute im Nachbarhaus die Polizei gerufen hatten, weil sie glaubten, dass hier bei uns eine blutige Familienfehde im Gange sei. Hinterher hatte sich herausgestellt, dass man unten an der Haustür nur ein paar späte Gäste verabschiedet hatte.
Doch das war noch harmlos gewesen. Einmal, als ich nachts um ein Uhr noch etwas aus dem Keller holen wollte, hatte ich einen meiner Hausgenossen, einen Typen namens Mehmet, im Waschkeller angetroffen; er hatte sich zusammen mit einem anderen Burschen, den ich nicht kannte, über einen offenen Koffer gebeugt, den sie auf dem Trockner deponiert hatten. Als sie mich sahen, warfen sie den Koffer sofort zu, und ich nahm auch ohne explizite Bitte augenblicklich die Füße in die Hand. Das Messer, das Mehmets Kumpan hatte aufschnappen lassen, war Aufforderung genug gewesen.
Als ich Solveig davon erzählt hatte, war sie nicht überrascht. »Das ist halt Multikulti«, meinte sie nur dazu. »Das gibt’s hier fast in jedem Haus. Vergiss es, dann vergessen sie es auch.«
Wir wohnten in der Nähe des Zoos, nicht gerade die feinste Gegend in Frankfurt, aber dafür eine der preiswerteren. Die Straße, in der wir lebten, war zwar ziemlich schäbig, aber dafür vergleichsweise ruhig. Wir hatten einen kleinen Dachgarten nur für uns, ein saniertes Badezimmer, reservierte Parkplätze und eine erstklassige Straßenbahnanbindung. Mehr an Wohnkomfort konnte man sich als Mieter in einer Großstadt heutzutage kaum wünschen. Natürlich hätten wir das Westend vorgezogen, doch da hätte eine Wohnung wie die unsere mindestens dreimal so viel gekostet.
»Ein Vertreter?«, fragte Frau Herberich knapp und wies mit dem Kinn die Treppe runter.
»Eh … ja.«
»Lästige Bande.« Sie rollte die Gehhilfe zum Aufzug und drückte den Knopf.
»Ich muss noch mal zur Fußpflege. Ich glaube, ich krieg da vielleicht ein Überbein. Hoffentlich macht der kleine Scheißer das heute ausnahmsweise mal richtig.«
Frau Herberichs zweite Leidenschaft nach Beethoven waren ihre Füße. Sie hatte bereits alle Fußpfleger im Viertel durchprobiert und war mit keinem zufrieden. Ihrer Meinung nach wollten die kleinen Scheißer alle bloß ihr Geld.
»Einer wie der andere«, pflegte sie zu sagen. »Keine Ahnung von nix. Ein bisschen rubbeln, ein bisschen hobeln, ein bisschen einschmieren, und aus. Hauptsache, schnell fertig.«
Die unterbelichteten Fußpfleger wollten einfach nicht begreifen, dass die Füße des Menschen der wichtigste Körperteil überhaupt waren. Frau Herberich zufolge rührte alles Übel in Form körperlicher Krankheiten von vernachlässigten Füßen her, sei es Migräne, Zahnweh, Magenkrebs, Prostatabeschwerden oder grauer Star. Ihr Mann war hauptsächlich deswegen gestorben, weil er sich einen feuchten Dreck um seinen chronischen Fußpilz geschert hatte.
»Pflege deine Füße, und du wirst hundert Jahre alt«, lautete ihre Devise. Hornhaut, Hühneraugen, verwachsene Nägel, schuppige Stellen und schlecht durchblutete Zehen waren für sie Symptome des nahenden Dahinscheidens, weshalb sie es erst gar nicht dazu kommen ließ. Ihre Füße waren ihr Ein und Alles.
Sie hatte mir schon öfter
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