Beiss mich - Roman
Dieb bemerkt hatte, obwohl noch mindestens vier andere hellwache, aufnahmefähige und geistig gesunde Leute direkt danebengestanden hatten?
Und nicht nur das. Wie würde es erst klingen, wenn ich diesem abgebrühten Kripobeamten erklärte, dass der Mann, den ich gesehen hatte, nach dem Diebstahl nicht einfach davongerannt war, sondern sich kurzerhand in Luft aufgelöst hatte?
Im günstigsten Fall würde man mich für eine verlogene Wichtigtuerin halten, im ungünstigsten für eine bedauernswerte Geistesgestörte. Nein, danke. Das hatte ich alles schon bis zum Exzess gedanklich durchgekaut. Lüge oder Wahrheit, Trick oder Einbildung, Flashback oder echter Vampir – wenn ich schon damit überfordert war, galt das erst recht für die Polizei. Die taten sich ja schon mit stinknormalen Ganoven schwer. Für irgendwelchen übersinnlichen Kram war man dort nicht zuständig, dergleichen überließ man eigens dafür geschulten Menschen in weißen Kitteln, die für die Zeugen imaginärer Diebstähle eine Menge bunter Pillen bereithielten.
Für meinen Seelenfrieden war es vermutlich ohnehin am besten, einfach schleunigst alles zu vergessen. Es war ja nicht mein Blut, das dieser Typ geklaut hatte.
»Hören Sie, ich habe mir das Ganze nur eingebildet. Ich habe hinterher noch mal gründlich über alles nachgedacht, und ich bin wirklich sicher, dass da gar nichts war. Sie kennen das doch bestimmt auch. Zu viel Stress, wenig Schlaf. All diese Dinge eben.«
Er nickte verständnisvoll. »Das kenne ich wahrhaftig.«
Ich atmete erleichtert auf. »Na, dann wäre das erledigt.«
»Keineswegs«, versetzte er freundlich.
Ich erstarrte.
»Eine genaue Beschreibung dieses Mannes wäre für uns in jedem Fall hilfreich.« Er beugte sich vor uns sah mich eindringlich an. »Besser eine einzige Zeugenaussage als gar keine, verstehen Sie.«
Wieder zischte mir diese kleine Stimme in meinem Ohr zu, ihm alles zu erzählen, mich ihm anzuvertrauen (ihm vor allem die spitzen Zähne nicht zu verschweigen!), doch dann dachte ich an den endlosen Rattenschwanz von Problemen, den ich mir damit einhandeln würde.
Ich wurde wütend. »Das wird mir jetzt aber zu viel, Herr Schimanski. Sie verlangen von mir, dass ich etwas bezeuge, das ich bloß geträumt habe!«
»Ist das so?«, fragte er sanft.
»Was soll das?«, empörte ich mich. »Es waren doch genug andere Leute da. Hat vielleicht einer von denen was gesehen?«
»Nein.«
»Na also. Dann kann ich ja gar nichts gesehen haben.« Ich stand auf. »Damit sind wir jetzt fertig. Ich kann Ihnen wirklich nichts mehr dazu sagen.«
Er stemmte sich aus dem Sessel hoch und zog eine Visitenkarte aus der Innentasche seines Sakkos, die er mir reichte. »Wenn Ihnen doch noch irgendetwas einfallen sollte – rufen Sie mich an.«
»Danke«, sagte ich, in der Hoffnung, dass die Angelegenheit für mich damit endgültig erledigt war und ich diesen Mann nie wiedersehen würde.
Höflich begleitete ich ihn zur Wohnungstür. Als wir an der Küche vorbeikamen, warf er einen Blick hinein und sah die vielen Schüsseln und Platten und die Getränkekisten in der Ecke.
»Sie veranstalten sicher eine Feier«, meinte er, während er die Jacke anzog.
Angesichts der Offenkundigkeit dieser Tatsache beschränkte ich mich auf ein knappes Nicken. Mir war klar, dass ich nicht gerade freundlich zu ihm war, doch er hatte einen gewissen eigensinnigen Blick, der in mir den Argwohn hervorrief, dass er mich heute nicht das letzte Mal genervt hätte. Er machte ganz den Eindruck, als brauche er nur ein wenig Zeit, um sich eine neue Strategie zurechtzulegen.
Ich vergewisserte mich, dass er tatsächlich die Treppe runterging, und war erst beruhigt, als ich unten die Haustür zufallen hörte.
7. Kapitel
I m selben Augenblick ging nebenan die Wohnungstür auf, und unsere Nachbarin, Frau Herberich, schob ihre Gehhilfe vor sich her zum Aufzug. Sie war ausgehfertig angezogen: dicker, knöchellanger Wintermantel, mottenzerfressene Pelzmütze, verfilzte Wollhandschuhe. Die Handtasche hatte sie vorn auf der Ablage ihres Rollators deponiert. Normalerweise war sie noch recht passabel zu Fuß, doch bei dieser Witterung zog sie es vor, auf Nummer sicher zu gehen. Sie war alleinstehend; ihr Mann war seit drei Jahren tot, dahingerafft von einem Schlaganfall, ein Umstand, den Frau Herberich bei jeder Gelegenheit lautstark zu preisen wusste. Ihr Mann war nämlich im Gegensatz zu ihr ein eingefleischter Musikhasser gewesen, insbesondere Klassik hatte er
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