Beiss mich - Roman
hätte er fragen müssen: Wie schlimm ist es wirklich?
Doch er war ein Mann und fragte nicht. Also war ich wieder an der Reihe.
»Wie läuft es in der Bank?«
»Super. Die Prokura ist durch. Mit dicker Gehaltserhöhung.«
»Darauf trinken wir übermorgen einen zusammen.«
»Du nuschelst so komisch. Stimmt was nicht?«
»Ach, das weißt du ja noch gar nicht. Ich sehe wieder aus wie vierzehn.«
Ich erzählte ihm von meiner Zahnklammer. »Hält leider nicht gut, das Ding. Wahrscheinlich lasse ich es mir wieder rausmachen.«
»Wo bist du in Behandlung? Bei Rainer?«
»Nein, der ist ja kein Kieferorthopäde.«
Doch Lucas’ Frage hatte sofort eine Eingebung bei mir hervorgerufen. Rainer! Er war Zahnarzt, oder nicht? Und er war mein Ex, womit ich eine Rechtfertigung dafür hatte, irgendwann nach Feierabend, vorzugsweise nach Sonnenuntergang, bei ihm vorbeizuschneien.
Bei dieser Gelegenheit könnte er nicht nur in meinem Beisein eine Online-Überweisung auf mein Konto tätigen, sondern auch die blöden Brackets entfernen. Das passende Werkzeug hatte er bestimmt irgendwo herumliegen. Er konnte mir die Drähte ziehen und die Reste des Klebers abschleifen. Und mir eine Schiene zum Stabilisieren der lockeren Zähne anfertigen, was, wie ich aus dem Patientenreader wusste, unabdingbare Voraussetzung dafür war, dass die Zähne nach dem Entfernen der Klammer nicht in alle möglichen Richtungen auseinanderrutschten. Wenn ich schon ein Vampir war, sollten meine Zähne wenigstens weiterhin ordentlich in Reih und Glied stehen. Woher sollte ich wissen, ob ich nicht tatsächlich tausend Jahre damit leben musste?
»Was macht die Liebe?«, fragte Lucas, doch was er eigentlich meinte, war: Frag mich doch bitte, was die Liebe bei mir macht!
»Nix«, sagte ich. »Und was macht die Liebe bei dir?«
Er lachte auf, glücklich und befreit. »Sie heißt Claudia.«
»Hört sich gut an.«
»Warte nur, bis du sie siehst! Sie kommt mit zu der Feier.«
»Ich bin gespannt.«
»Sie ist erst zwanzig«, meinte er. »Fast neun Jahre jünger als ich.«
»Na und?«
»Findest du das nicht zu jung?«, fragte er.
»Wofür?«
»Na, dafür jedenfalls schon mal nicht.« Es klang anzüglich, woraus ich schloss, dass die beiden diesen Bereich schon ausgetestet hatten. Hoffentlich mit mehr Erfolg als bei Bea.
Trübselig wechselte ich das Thema. »Mama und Papa verkaufen das Haus.«
»Ich weiß.« Auch er hörte sich nicht allzu begeistert an.
»Sie haben sich einen schönen Lebensabend verdient«, meinte ich.
»Scheiß drauf. Wenn das Haus weg ist, werde ich mir irgendwie amputiert vorkommen. Ich meine, es kratzt mich nicht mal so, dass sie nach Mallorca abrauschen. Aber dass sie das Haus verkaufen wollen, bricht mir das Herz. Komisch, oder?«
Es war kein bisschen komisch. Mein Herz war jetzt schon gebrochen, denn ich hatte weit mehr verloren, als er sich je würde vorstellen können.
»Ich muss jetzt Schluss machen«, sagte ich. »Wir sehen uns dann auf der Feier.«
*
In den folgenden drei Tagen sah ich Solveig häufiger als in den letzten Wochen. Der Frieden, den wir miteinander geschlossen hatten, schien sich als stabil zu erweisen, doch es konnte überhaupt keine Rede davon sein, dass uns dieselbe Eintracht verband wie vor meiner Veränderung.
Wenn wir abends zusammen im Wohnzimmer saßen, war das einzige Thema, das sie interessierte, mein Vampirzustand. Mit ihren zahlreichen Fragen zu meinen Befindlichkeiten trieb sie mich an den Rand der Verzweiflung. Sie wollte buchstäblich alles wissen. In erster Linie interessierte sie natürlich, wie es sich anfühlte, nicht mehr essen zu müssen. Ob ich nicht wenigstens zwischendurch mal Hunger hätte, zumindest ein kleines bisschen, auf Schokolade oder Eis zum Beispiel.
Hatte ich nicht.
Wie das mit dem Blutdurst war.
Nicht vorhanden (eine kleine, aber verzeihliche Lüge von mir – ich wollte nicht wieder von ihr unter Beißzwang gesetzt werden).
Ob ich noch Monatsblutungen bekam?
Ja, aber nur noch ganz schwach.
Ob mir an meinen Zähnen was aufgefallen war?
Nur, dass die Klammer nicht hielt.
Und sonst?
Nein, überhaupt nichts (hier log ich aus denselben Gründen wie vorher).
Ob ich noch Lust auf Sex hatte?
Nein, aber die hatte ich ja vorher auch nie gehabt (die Nacht mit Martin ließ ich wohlweislich außen vor).
Ob meine Puls- und Atemfrequenz im Wachzustand genauso langsam war wie während des Schlafs?
Das wusste ich nicht, weshalb sie mir mindestens drei Minuten lang den
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