Beiss mich - Roman
mit einem Kuss auf die Stirn und stellte mich dem Heimleiter vor, einem leicht gequält dreinschauenden Mann um die vierzig mit wässrigen Augen und überdimensionalem Adamsapfel. »Ich habe gerade von dir gesprochen.«
»Hoffentlich nur Gutes«, sagte ich.
»Immer. Wenn deine Mutter und ich erst mal auf Mallorca sind, muss ja hier jemand als Ansprechpartner fungieren.«
Papa und der Heimleiter lächelten mich an. Der Adamsapfel des Heimleiters hüpfte aufmunternd.
Ich schaute mich um, ob sie vielleicht jemand anderen meinten. Doch da war nur der Alleinunterhalter, der soeben einen schwummerigen Foxtrott intonierte.
Papas Lächeln wurde amtlich. »Für alle Fälle habe ich schon mal deine Adresse und deine Telefonnummer vorne im Büro hinterlassen.«
Ich tat so, als müsse ich noch etwas erledigen und entschuldigte mich.
Die rothaarige Claudia und mein Bruder standen im Schatten eines Gummibaums und knutschten, also setzte ich mich wieder an den Tisch.
»Sie ist erst zwanzig«, sagte Mama missfällig.
»Zwanzig ist ziemlich jung«, räumte ich ein.
»Sie ist noch nicht mal mit der Schule fertig.«
»Aber immerhin macht sie Abi.«
»Bea hatte auch Abi.«
»Aber ihr Busen war mindestens zwei Nummern kleiner.«
Darüber konnte Mama sich nicht amüsieren. Sie schwieg verstimmt.
»Nimm dir ein Schnittchen«, sagte Oma.
»Danke, aber ich habe Magenprobleme.«
»Die Berta Cerwinsky ist letzten Monat an Magenkrebs gestorben.«
»Das war letzten August«, verbesserte Opa sie. Sein nahezu kahler, von Altersflecken übersäter Schädel spiegelte das Licht der Deckenbeleuchtung wider, als er sich vertraulich zu mir neigte. »Sie hat Alzheimer, sagen die Ärzte. Da ist nichts mehr zu retten.«
»Was hast du da im Mund, Kind?«, fragte Oma besorgt.
»Ich habe für dich auch gleich ein paar Fotos aussortiert«, sagte meine Mutter. Sie nahm ihre Handtasche von der Stuhllehne und kramte darin herum. »Da sind welche dabei, die sind bestimmt hundert Jahre alt. Warte mal …« Sie zog einen braunen Umschlag heraus, öffnete ihn und entnahm ihm einige alte Studioaufnahmen. Sie schob den Schnittchenteller beiseite und legte eine Handvoll der brüchigen, sepiafarbigen Aufnahmen vor mir auf den Tisch. Liebevoll fächerte sie die steifen Pappbilder auseinander und deutete auf die einzelnen Personen.
»Das ist Uroma Magdalene.«
»Deine Oma aus Lothringen?«
Sie nickte. »Und das hier ist Tante Clara. Sie war die Zweitälteste. Und wer dann kam, weißt du ja. Hier ist sie.«
Ich starrte das Bild an, das meine Mutter in mein Blickfeld gerückt hatte. Es zeigte ein junges Mädchen. Ihr helles Haar war, wie es in den frühen Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts Mode war, in gefälligen Wellen aus der Stirn frisiert und zu zwei Zöpfen geflochten, die hinter den Ohren zu Schnecken aufgesteckt waren. Sie trug ein Matrosenkleid, damals das absolute Muss für eine Studioaufnahme, dazu dicke weiße Wollstrümpfe und schwarze Schnallenschuhe. Sie stand vor einer Dekoration, die ganz im maritimen Stil gehalten war: Schiffe auf bemalter Leinwand, ein ausrangierter Anker rechts neben ihr, ein aufgerolltes Tau zu ihren Füßen, ein wie zufällig hingeworfenes Fischernetz im Hintergrund.
Doch das war nur Staffage. Der eigentliche Mittelpunkt der Aufnahme war das Gesicht der jungen Frau. Es war von klassischer Schönheit. Die hohe, glatte Stirn, die ernsten Augen, die schmale, leicht kecke Nase, der perfekte Amorbogen ihrer Oberlippe, der kindlich runde Schwung ihres Kinns – das alles vereinigte sich zu einem Bild jungfräulicher Unschuld.
Oma hatte ihre Brille aufgesetzt. Ihre Blicke wechselten von mir zu dem Foto und wieder zurück.
»Na so was«, sagte sie.
»Da war sie sozusagen noch in Zivil«, sagte Mama begeistert.
Ich nahm das Bild vom Tisch und drehte es um. Auf der Rückseite des steifen Pappkartons war in spinnwebartiger Schrift eine Jahreszahl notiert.
»Neunzehnhundertsechzehn.«
Mama nickte. »Da lebte sie noch zu Hause. Ins Kloster ist sie erst später gegangen, als ihr Verlobter im Feld geblieben war.«
»Sie war verlobt?«
»Das hatte ich auch nicht gewusst. Oma hat es mir erzählt. Manchmal fallen ihr die alten Sachen wieder ein. Ich hab’s mir sofort aufgeschrieben. Habe ich dir schon gesagt, dass ich an einer wissenschaftlichen Dokumentation über Lucia arbeite?«
Ich drehte das Bild wieder um und starrte das Foto an, außerstande, meinen Blick von dem Gesicht zu lösen. Meine Mutter sprach aus, was
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