Beiss mich - Roman
Liegefläche verfügbare Spalt zwischen den beiden Öltanks war allerdings höchstens dreißig Zentimeter breit. Außerdem war ich dort zwar möglicherweise vor dem Tageslicht sicher, nicht aber vor Solveigs Rache. Davor konnte ich nirgends sicher sein, jedenfalls nicht, solange sie wusste, wo ich mich aufhielt. Im Grunde war es also gar keine Alternative, mich im Heizungskeller oder sonst wo zu verkriechen, denn Solveig hätte binnen kürzester Zeit herausgekriegt, wo ich steckte. Sie kannte persönlich jeden Einzelnen, der als Asylgeber für mich auch nur entfernt infrage kam – falls so jemand überhaupt existierte, woran ich ernstlich zweifelte, denn wer fühlte sich schon zum Renfield berufen? Wer, abgesehen von Solveig, würde die Selbstdisziplin aufbringen, über meine Eigenarten eisernes Stillschweigen zu bewahren? Meine Mutter bestimmt nicht. Sie würde mich zwingen, sie zu ihrem Hexenzirkel zu begleiten, auf einer Lichtung den Mond anzubeten und mich zur Erdmutter weihen zu lassen.
Ich knirschte mit den Zähnen und brach mir dabei den Aufbau im rechten Unterkiefer ab. Vorsichtig spuckte ich ihn in die hohle Hand, ein winziges Stück Kunststoff, das sich im Mund so gewaltig wie der Tafelberg angefühlt hatte.
Jetzt erst begriff ich das wahre Ausmaß meines Dilemmas. Ich war nicht nur auf Solveig angewiesen, sondern ihr auch auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, weshalb ich gut daran tat, mir ihre Sympathien nicht zu verscherzen, zumindest so lange nicht, wie ich nicht imstande war, endgültig aus ihrem Dunstkreis zu verschwinden.
Zum Verschwinden aber brauchte ich Geld, das ich bekanntlich nicht besaß. Und es musste schon viel Geld sein, sehr viel, zumindest mehr als das, was sie noch auf der hohen Kante hatte und sicher ohne zu zögern für Aufenthaltsermittlungen ausgeben würde.
Natürlich konnte ich auch darauf vertrauen, dass ich noch lernen würde, mich in eine Fledermaus zu verwandeln. Oder wenigstens, mich unsichtbar zu machen, so wie Martin, doch ich argwöhnte, dass ich zum Entwickeln solcher Fertigkeiten weit länger brauchen würde als ein paar Tage. Außerdem hatte ihn dieser Trick auch nicht davor bewahrt, von Solveig aufgespürt zu werden.
Ihre Miene war undurchsichtig, doch ich war zu vertraut mit ihr, um nicht wenigstens einen Teil der Regungen hinter ihrem Pokerface zu erkennen. Triumph, Genugtuung, Vorfreude, eine Spur von Gier und … ja, es war auch Hass dabei.
Auf mich oder auf Martin? Schwer zu sagen. Es war ein wenig wie Roulette, und mein Leben war der Einsatz.
Ach, Solveig, dachte ich. Mir war schwindlig bei dem Gedanken, sie könnte mich womöglich ernstlich hassen. Im Grunde wollte ich es gar nicht wissen, doch es war natürlich eine Frage des Überlebens. Und es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Ich machte das Fenster wieder zu und drehte mich zu ihr um. »Okay. Ich bin dabei.«
*
Der Tag für Die große Aussprache , wie ich insgeheim die bevorstehende Zusammenkunft nannte, wurde auf den Freitag der kommenden Woche festgelegt. Es musste ein Freitag sein, damit für alle Fälle noch das Wochenende drangehängt werden konnte. Welche Fälle Solveig damit genau meinte, blieb trotz meiner vorsichtigen Fragen im Dunkeln, ebenso wie die Adresse von Martin, von der Solveig lediglich offenbarte, dass es eine Villa im Taunus sei ( »Lass dich doch einfach überraschen, ja?« ).
Vielleicht befürchtete sie, ich könne es mir noch anders überlegen und sie allein zum Konfliktgespräch schicken. Oder ihn anrufen, um ihn vorzuwarnen.
Doch dergleichen hatte ich nicht vor. So unangenehm mir das alles war – ich wollte es durchziehen. Schon deshalb, weil ich herausfinden musste, woran ich mit Solveig war. Obwohl ich mir immer wieder sagte, dass sie wirklich nichts weiter vorhatte als Die große Aussprache , spürte ich die Beklemmung drohenden Unheils.
Zu der Zeit konnte ich jedoch auch bei aller Phantasie nicht ahnen, was wirklich geschehen sollte.
*
Solveig hatte sich für Die große Aussprache extra einen Tag Urlaub genommen, damit noch genügend Zeit für die mentale Einstimmung blieb.
Was die Zeit bis dahin betraf, so hatte Solveig allerdings sehr konkrete Pläne. Nicht für sich, sondern für mich.
»Du musst endlich wieder unter die Leute«, sagte sie. »Ich habe allen die ganze Zeit erzählt, dass du noch an den Nachwirkungen der Lungenentzündung rumlaborierst, doch das zieht inzwischen nicht mehr so richtig. Außerdem hast du immer noch nicht deine Mutter
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