Beiss mich - Roman
den Regalen gegriffen und mir einpacken lassen. Für Oma Pralinen und Blumen, für Opa einen Autoatlas und Cognac.
Ich sagte mir, dass es auf die Geste, nicht auf den Inhalt ankam. Oma und Opa schienen genauso darüber zu denken wie ich. Sie kriegten sich kaum ein vor Freude.
»Ich hatte schon seit mindestens zwanzig Jahren keinen Autoatlas mehr!«, erklärte Opa begeistert. Er blätterte den Atlas durch und tippte mit seinem gichtknochigen Finger auf die Orte, die er kannte.
Oma packte die Pralinen aus und zeigte sie herum.
»Das ist meine Enkelin«, stellte sie mich der Frau vor, die neben ihr saß. Es war meine Mutter. Sie trug einen kornblumenblauen Leinenkaftan und Caprihosen. Dem zunehmenden Grauanteil in ihrem Haar hatte sie mit einer pflaumenvioletten Tönung Paroli geboten, ganz das modebewusste Erdweib.
»Hallo, Mama.«
»Hallo, mein Schatz.«
Mein Vater stand mit Lucas und einer großbusigen Rothaarigen am anderen Ende des großen Speisesaals und unterhielt sich mit ihnen. Als er mich sah, winkte er mir zu und stieß Lucas an, der ebenfalls winkte. Ich winkte zurück und setzte mich zu Mama. Sie schaute ziemlich angeödet drein.
»Wie geht’s?«, fragte ich.
»Danke. Und dir?«
»Ich bin okay. Freust du dich auf Mallorca?«
»Mal ja, mal nein.« Sie schaute auf ihre Armbanduhr. »Du kommst spät.«
»Ich bin noch aufgehalten worden.«
»Du hast ziemlich viel Rouge drauf.« Dann wechselte sie, wie es häufig ihre Art war, abrupt das Thema. »Stell dir vor, was ich in Omas alten Sachen noch gefunden habe.«
»Keine Ahnung. Geld?«
»Fotos!«
Oma mischte sich ein. »Was hast du da im Mund, Kind?«
»Eine Zahnspange, Oma.«
Sie wandte sich an meine Mutter. »Was die Kinder heutzutage alles schick finden!«
Meine Mutter fand es nicht schick. »Kannst du das nicht rausnehmen, wenn du eingeladen bist?«
»Nein, es ist festgeklebt. Aber ich will es demnächst rausmachen lassen.«
»Bist du bei Rainer in Behandlung?«
»Mal ja, mal nein.«
Lucas und die Rothaarige kamen zu uns an den Tisch. Ihr Haar war gefärbt, aber der Busen wirkte echt. Außerdem sah sie aus, als ginge sie noch zur Schule. Kein Zweifel, das war Claudia.
Lucas küsste mich auf die Wange und stellte uns vor. »Das ist Claudia.«
»Hi«, sagte Claudia. Sie entblößte ihre perfekt regulierten Zähne zu einem freundlichen Lächeln.
»Hi«, lächelte ich zurück.
»Oh, du hast ja ’ne Spange.«
»Ja, aber bald kommt sie raus.«
»Ich hatte auch eine. Ist aber schon Jahre her.« Sie zeigte auf meine Haare. »Tolle Locken. Und dein Rock ist auch toll.«
Womit sie wohl ein Gegenkompliment erwartete. »Danke. Deine Bluse ist auch toll.«
Lucas war ganz offensichtlich derselben Meinung. Er himmelte Claudias Bluse verliebt an.
Der Alleinunterhalter stimmte mit zittrigem Tastendruck eine Art Tango an, und die Paare auf der Tanzfläche zerstreuten sich und gingen zu ihren Plätzen zurück.
Claudia sah sich mit künstlichem Lächeln um. Das hier war wohl nicht gerade die Art von Party, die sie sonst besuchte.
»Was machst du so?«, fragte ich.
»Beruflich? Ich geh noch zur Schule. In vier Monaten mach ich Abi.«
»Ach«, meinte ich.
Ein paar Minuten darauf ging sie zur Toilette, und Lucas meinte: »Ist sie nicht toll?«
»Ja«, erwiderte ich höflich.
»Sie geht noch zur Schule.«
»Ich hab’s schon gehört.«
»Aber sie ist unheimlich erwachsen für ihr Alter.«
Was immer das hieß.
Ich sollte es gleich erfahren. Er beugte sich näher. »Übrigens –
im Bett ist mit ihr alles super.«
»Hat sie dir das gesagt?«
Ihm schwoll die Brust. »Das merke ich auch so. Sie ist doch erst zwanzig.«
Anscheinend war er der Ansicht, in diesem unbedarft-jugendlichen Alter könne eine Frau unmöglich einen Orgasmus simulieren. Ich wusste es besser, doch dies war weder der Ort noch die Zeit, um Lucas an meinem Erfahrungsschatz teilhaben zu lassen.
Oma zeigte mir das Geschenk, das sie von meinen Eltern bekommen hatte. Es war ein Säckchen mit Runensteinen und ein Plaid aus Schafwolle.
»Die Steine sind zum Würfeln«, meinte sie. »Aber es sind keine Zahlen drauf. Und wofür die Matte ist, muss ich noch mal fragen.«
Mama ballte die Hände zu Fäusten. »Mutter, das sind Runen. Und es ist keine Matte, sondern ein Plaid.«
»Ich weiß, was ein Plaid ist. Ein Plaid ist kariert.«
Ich stand auf und ging zu meinem Vater, der vorn bei der Tür stand und sich mit dem Heimleiter unterhielt.
»Hallo, Luzie!« Er begrüßte mich
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