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Beiss mich - Roman

Beiss mich - Roman

Titel: Beiss mich - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Voeller
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ich selbst dachte.
    »Es ist nicht zu übersehen, oder? Deshalb sollst du ja auch das Bild haben. Von mir aus kannst du es gleich mitnehmen. Bei Gelegenheit lasse ich es dann mal abfotografieren, für meine Unterlagen.«
    »Sie war ein Früchtchen«, sagte Oma.
    »Ach, sei doch still, Mutter.«
    Ich schaute in Lucias Augen, und es war, als würde ich in einen Spiegel sehen. Natürlich war sie damals jünger, schöner, ernster und idealistischer gewesen als ich heute, doch die Ähnlichkeit war viel zu frappierend, als dass sie jemand hätte übersehen können. Sie hätte meine Zwillingsschwester sein können.
    Plötzlich spürte ich heftigen Durst. Ich nahm mir von dem überall bereitstehenden stillen Mineralwasser und trank mit wenigen Schlucken ein randvolles Glas leer.
    Meine Mutter glühte förmlich. Ich erkannte sofort, dass die esoterische Implikation dieser merkwürdigen Familienähnlichkeit alle Erdweib-Saiten in ihr zum Schwingen brachte. Sie strahlte mich an, und es stand ihr sozusagen auf der Stirn geschrieben. Wer konnte jetzt noch daran zweifeln, dass sie recht daran getan hatte, mir, ihrer Tochter, den Namen dieser fernen blonden Schönheit zu geben? Konnte es eine bessere Bestätigung der alten Dritte-Glied-Geschichte geben als dieses Foto?
    »Danke«, sagte ich und schob das Foto in meine Handtasche.
    »Hast du die Übersetzung gelesen? Ein paar von meinen Freundinnen haben gemeint, dass sie ziemlich lückenhaft ist. Ich habe sie auch dem Pfarrer gezeigt, und er war der Ansicht, dass es keine direkten Anhaltspunkte gibt, wonach wir ein offizielles Verfahren einleiten könnten.«
    »Welches Verfahren?«
    Mama machte eine ungeduldige Geste. »Das weißt du doch. Zur Seligsprechung. Na ja, er hat mehr Ahnung davon als ich. Aber so schnell gebe ich nicht auf.« Sie wartete meine Antwort nicht ab, sondern fuhr eifrig fort: »Ich lasse das Original momentan noch mal neu übersetzen, von Luigi, der war früher Lehrer.«
    Luigi war, wenn ich richtig informiert war, der Vater von Mario. Mario wiederum betrieb nur drei Ecken von meinem Elternhaus entfernt eine Pizzabäckerei, wo wir schon in meiner Kindheit Spaghetti Milanese und Pizza Capricciosa verspeist hatten.
    Ich konnte mich daran erinnern, wie Luigi damals zwischen den Tischen des Lokals umhergeflitzt war und auf Italienisch die Bestellungen in Richtung Ofen gebrüllt hatte, wo Mario den Teig durch die Luft wirbelte wie ein Jongleur.
    Der Seniorchef Luigi hatte schon damals kaum noch Haare gehabt, und seine Falten hätten einem Truthahngeier Konkurrenz machen können. Heute musste er meiner Meinung nach mindestens hundert sein.
    »Er ist ja immer noch ganz fit für seine dreiundsiebzig«, meinte Mama.
    »Wer? Mario?«
    »Nein, Luigi natürlich. Mario ist doch erst fünfzig. Luigi will es mir für hundert Euro machen.«
    »Äh … was?«
    »Na, die Übersetzung natürlich. Ich kopiere sie gleich für dich, wenn ich sie bekomme. Luigi hat gemeint, er kriegt es auf jeden Fall fertig, bevor wir ausziehen.«
    Mit dieser Bemerkung katapultierte sie meine Laune auf den absoluten Tiefpunkt. Die ganze Zeit hatte ich es geschafft, möglichst wenig daran zu denken, doch jetzt wurde mir die bevorstehende Ausreise meiner Eltern schlagartig wieder ins Gedächtnis zurückgerufen.
    »Ist irgendwas nicht mit dir in Ordnung?«
    Ich starrte meine Mutter an. War irgendwas mit mir nicht in Ordnung?
    Ja, das kann man wohl sagen. Ich bin ein Vampir. Ich esse nicht, ich trinke nichts außer Wasser, ich kann nur noch bei Nacht ins Freie, denn bei Sonnenaufgang sinke ich in totenähnliche Bewusstlosigkeit. Falls dann jemand das Rollo hochziehen sollte und Sonnenlicht auf mich fällt, würde ich innerhalb kürzester Zeit verkohlen und es nicht mal mitkriegen, weil mein Schlaf zu fest ist.
    Ich bin auf Gedeih und Verderb meiner besten Freundin ausgeliefert, die vielleicht schon längst meine schlimmste Feindin ist.
    »Luzie?«
    »Mir geht’s gut, Mama.« Ich war schon wieder durstig und stürzte ein weiteres Glas Wasser hinunter.
    Omas Augen hinter den dicken Brillengläsern funkelten mich eulenhaft an. »Wenn du nicht aufpasst, verbrennen sie dich.«
    Ich erstarrte, doch der Moment verging so schnell, wie er gekommen war.
    Omas Aufmerksamkeit wurde von einem Damentrio abgelenkt, das zusammen mindestens zweihundertfünfzig Jahre alt war. Sie sahen einander alle ähnlich, mit weiß gelockten Haaren, knittrigen Wangen, dunklen Strickkleidern und Gesundheitsschuhen mit Einlagen. Sie

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