Bel Ami (German Edition)
die zweihundertundvierzig Francs, die er ihr schuldete, zurückzugeben. Er überlegte sich aber, daß ihm dann nur hundertundsechzig Francs verblieben, eine Summe, die gänzlich unzureichend war, um seine neue Stellung in gebührender Weise zu bestreiten, und er verschob die Rückgabe auf spätere Zeiten. Zwei Tage lang beschäftigte er sich mit der Einrichtung, denn er übernahm einen besonderen Tisch nebst Brieffächern in dem allgemeinen Redaktionssaal. Er saß an dem einen Ende des Saales, während Boisrenard mit seinem trotz vorgeschrittener Jahre rabenschwarzen Haar, den Kopf über ein Blatt Papier gebeugt, an dem anderen Ende arbeitete.
Der lange Tisch in der Mitte des Saales war für die fliegenden Reporter reserviert. Gewöhnlich diente er als Sitzbank; man saß entweder am Rande mit herunterhängenden Beinen, oder in der Mitte: nach türkischer Art; so saßen die Reporter oftmals auf diesem Tische zu fünft oder zu sechst und spielten hartnäckig Fangball. Duroy hatte an diesem Spiel gleichfalls Geschmack gefunden und begann, dank der Anleitung von Saint-Potin, ziemlich gut zu spielen.
Forestier, der immer leidender wurde, hatte ihm sein zuletzt gekauftes Bilboquet aus Antillenholz anvertraut, das ihm selbst ein bißchen zu schwer war, und Duroy schwang mit kräftiger Hand die große schwarze Kugel am Ende der Schnur, wobei er leise zählte: »Eins — zwei — drei — vier — fünf — sechs —«
Er hatte zum ersten Male zwanzig Treffer hintereinander an dem Tage, wo er bei Madame Walter speisen sollte. »Heute ist ein guter Tag,« dachte er, »ich habe Erfolg«; denn die Gewandtheit im Fangballspiel verlieh in der Redaktion der Vie Francaise eine Art Vorrang.
Er verließ zeitig die Redaktion, um sich in Ruhe umkleiden zu können. Während er die Rue de Londres entlangschritt, sah er vor sich plötzlich eine kleine Dame, die ihrer ganzen Haltung nach Madame de Marelle sein mußte. Er fühlte, wie es ihm heiß zu Kopf stieg und sein Herz begann laut zu klopfen. Er ging über den Fahrdamm, um sie im Profil sehen zu können. Sie blieb stehen, um gleichfalls hinüberzugehen. Er hatte sich getäuscht; er atmete auf.
Schon oft hatte er sich die Frage vorgelegt, wie er sich benehmen sollte, wenn er ihr begegnete? Sollte er sie grüßen oder sollte er so tun, als sehe er sie nicht?
»Ich werde sie nicht sehen«, dachte er.
Es war kalt; in den Rinnsteinen war das Wasser gefroren. Die Trottoire lagen grau und trocken im Laternenlicht.
Als der junge Mann nach Hause kam, sagte er sich: »Ich muß eine neue Wohnung haben. Mit der geht es nicht mehr.« Er fühlte sich nervös und lustig. Er wäre imstande gewesen, über die Dächer zu klettern, und er wiederholte immer laut vor sich hin, indem er von seinem Bett zum Fenster ging: »Das Glück kommt! Das Glück kommt! Ich muß an Papa schreiben.«
Von Zeit zu Zeit hatte er nach Hause geschrieben, und diese Briefe brachten immer Freude in das kleine normannische Wirtshaus, das dicht an der Straße lag, hoch oben auf dem Hügel, von dem man Rouen und das weite Tal der Seine übersehen konnte.
Von Zeit zu Zeit erhielt er auch ein blaues Briefchen, dessen Adresse mit zitternder Hand geschrieben war, und er las immer die gleichen Zeilen am Anfange des väterlichen Briefes:
»Mein lieber Sohn! Aus diesem Briefe sollst Du erfahren, daß es Deiner Mutter und mir gut geht. Es gibt nicht viel Neues bei uns. Trotzdem möchte ich Dir mitteilen ... usw.«
Und im Innern seines Herzens bewahrte er Interesse für die Ereignisse, welche in seinem Dorf vorkamen, für die Nachbarschaft, für den Stand der Äcker und Ernten! Und er wiederholte, während er seine weiße Krawatte knotete:
»Ich muß morgen an Papa schreiben. Wie hätte sich der Alte gefreut, wenn er mich heute abend sähe!«
Und plötzlich stand vor seinen Augen die kleine, verräucherte Küche seines Elternhauses hinter der leeren Gaststube; die Kessel, die ihren gelben Schimmer an den Wänden entlang warfen, die Katze vor dem Herd, die dampfende Suppenterrine mitten auf dem alten, hölzernen Tisch, und ein Licht, das zwischen zwei Tellern brannte.
Er sah auch den Mann und die Frau, seinen Vater und seine Mutter; die beiden alten Bauern mit langsamen Bewegungen, wie sie ihre Suppe löffelten. Er kannte die kleinsten Runzeln ihrer alten Gesichter, jede Bewegung von ihren Körpern. Er wußte sogar, was sie sich sagten, jeden Abend, wenn sie einander gegenüber saßen. »Ich muß sie doch mal wieder
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