Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bel Canto (German Edition)

Bel Canto (German Edition)

Titel: Bel Canto (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milada Součková
Vom Netzwerk:
auf der Zunge, der einen ekelhaften süßen Beigeschmack zurücklässt?
    Ich würde wetten, wäre nicht seine Frau anwesend, würde auch er, dieser Doktor Zage auf dem Höhepunkt seiner Karriere, etwas über die »verschneiten Dächer« sagen. Ihm zitterten vor Angst die Hände, er ist einer von den Männern, denen immer die Hände zittern, sie haben immer das Gefühl, sie könnten ertappt werden, ertappt, ehe es ihnen gelingt, den Höhepunkt ihrer Karriere zu erreichen.
    »Verschneite Dächer«! Sie werden in Giulias Vorstellung jedes Mal auftauchen, wenn sie sich in der Fremde an ihre Jugend erinnern wird. Das hat sie mir bei einem ihrer Besuche in Prag anvertraut, als es schneite.
    Manchmal, wenn ich durch die verschneite Altstadt gehe, begreife ich, dass Giulia für diesen unwiederbringlichen Tag ihrer Jugend das »Verschneite« gewählt hat. Siekennen doch diesen Augenblick, wenn sich unsere normalen, banalen und alltäglichen Gefühle plötzlich so ändern, wie Wasser plötzlich zu Schneekristallen wird. Oh, gefeierte Kristallisation! Bedienten sich ihrer denn nicht schon viele Autoren vor Giulia?

SECHZEHNTES KAPITEL *
    Das ganze Sehnen Giulias zielte darauf, eine Heldin zu werden. Ihr ganzes Leben war auf dieses Ziel gerichtet. Leute, die Giulia kennen, würden sagen, ihr Misserfolg lag einfach daran, dass der Stimmumfang nicht ausreichte. Wie viele andere aber hatten mit weniger Stimme und weniger Schönheit dauernden Erfolg! Ich sage, Giulia verdarb sich ihre Lebenserfolge in entscheidenden Momenten dadurch, dass sie aus einem Rollenfach in ein anderes wechselte. Ihre eigentliche Rolle war natürlich die Rolle der Heldin, aber daneben gab es andere, auf die Giulia nie ganz verzichtete.
    Eine solche Rolle war zum Beispiel das Mädchen aus guter Familie, aus dem im Lauf der Jahre die große Dame wurde. Giulia versäumte das nie zu unterstreichen, sowohl ihren Liebhabern als auch ihren Kollegen und Kolleginnen vom Theater gegenüber. Können Sie sich vorstellen, welch böses Blut das manchmal im Theater gab und wie sich Giulia damit unnütz Feinde schuf. Und wie das der Rolle der leidenschaftlichen Geliebten entsprach, die Giulia ihren Liebhabern so aufrichtig vorspielte, dass sie dabei oft ihre eigenen Interessen vergaß!
    Für mich hatte Giulia eine ungewöhnliche Nuance: die der Intelligenz. Für mich spielte Giulia die Rolle der intelligenten Heldin; mir täuschte sie keine Leidenschaft vor, mir spielte sie nicht das Mädchen aus guter Familie, höchstens spielte sie sich für einen Moment als große Dame auf;vor mir trat sie gern als intelligente Heldin auf; analysierte »psychologisch interessante« Gefühle und Fälle. Vor mir gebrauchte sie gern das Wort: Psychologie. In der letzten Zeit auch: Sexualität.
    Vergebens forschte ich, wer ihr zum Beispiel Geschlecht und Charakter in die Hände gegeben hatte. Ich habe nicht direkt danach gefragt, obwohl ich mich wunderte, als ich bei ihr zum ersten Mal (auf dem Toilettentischchen) diesen dicken Band sah. Ich fragte sie nicht, wenigstens bin ich mir nicht sicher, ob Giulia mir die Wahrheit sagen würde. Möglicherweise würde sie sagen, sie hätte das Buch gekauft, das könnte wahr sein. Aber vielleicht riet ihr jemand dazu, vielleicht hörte sie über das Buch reden, wen? Es gibt so viele Möglichkeiten und ich weiß mit Sicherheit, Giulia sagt nur, was sie im allerbesten Licht erscheinen lässt.
    Und bedenken Sie, wie schwierig, ja beinah unmöglich es gewesen wäre, von ihr die Wahrheit über ihre Liebhaber zu erfahren. Und doch haben die, früher oder später jeder auf seine Weise, das verstanden, was auch ich, als Giulia vor uns ihre Rollen spielte, verstanden habe. Niemand von uns war bereit, Giulias zeitweilige Selbstlosigkeit zu würdigen, die jeder auf seine Art ausgenutzt hat. Aber Vorsicht, wir würden nicht wie ein »psychologist«, wie Giulia das sagt, abwägen.
    Manchmal, wenn sie zu mir, den Zug einer Heldin im Gesicht – Creme auf der Haut, mit alterslos herrlichem Haar, mit alterslos blauen Augen und natürlichen schwarzen Wimpern, nur der untere Teil des Gesichts ein wenig verblüht –, mit ihrer schönen Stimme eine Stunde über »Psychologie« redet, scheint mir, dass sie plötzlich über alle diese kleinen Rollen, die man Lebenslügen nennenkönnte, hinauswächst und ihr Gesicht selbst eine Wundermaske der »Psychologie« ist. Plötzlich scheint mir, ihr Mund spricht die »Wahrheit«, ganz gleich, ob sie über die Creme redet, die sie

Weitere Kostenlose Bücher