Bel Canto (German Edition)
seine vollkommen liberalen Ansichten.
Doktor Zage ist ein ausgezeichneter Kenner der menschlichen Natur, vom ersten Augenblick an nahm er wahr, dass Julinka etwas leichtsinnig ist; er hat doch nur ihr Wohl im Auge, das weiß Julinka bestimmt, daran zweifelt er nicht; sie ist zu leichtsinnig und das dürfte man ihr nicht mit gleicher Münze zurückzahlen; sie wird doch erlauben, mit ihr ganz freimütig als Freund zu sprechen: Julinka ist zu kokett, das beobachtete er wohl, das ist ihm nicht entgangen; er weist nicht darauf hin, was er alles sieht und bemerkt, aber er bemerkt alles gut: geben wir zu, dass sich Julinka manchmal kokett benimmt, um Doktor Zage eifersüchtig zu machen. Ach, er liest besser in einer Frauenseele, als Julinka denkt.
Langsam sind Beklemmung und Angst von ihm abgefallen. Die Hände zitterten ihm nicht mehr, er schwitzte nicht mehr, er fand das normale Gleichgewicht: Hoffen wir, Julinka wird so verständig sein und darüber, was zwischen ihnen geschah, niemandem gegenüber, nicht einmal ihrer besten Freundin, etwas erwähnen. Die ist übrigens auch in ihn verliebt. Doktor Zage prahlt damit nicht, er ist nur deswegen darauf zu sprechen gekommen, um Julinka aufmerksam zu machen, dass sie niemandem vertrauen darf. Im Falle Doktor Zages wäre solches Misstrauen freilichfehl am Platze, aber wenn an seiner Stelle jemand anders wäre –
Seine Befürchtungen waren unnötig. Jetzt begreift er selbst nicht, wie er solche Befürchtungen haben konnte: Julinka ist doch nicht dumm und würde niemandem anvertrauen, sie hätte Doktor Zage besucht!
Erwägt Doktor Zage diese Dinge mit kühlem Kopf, begreift er nicht, wie ihn für eine Weile so ein Gedanke beherrschen konnte – das ist nur durch die Erregung, in der er sich naturgemäß befunden hat, zu entschuldigen. Gern würde er den Menschen sehen, der in seinem Falle kühlen Kopf bewahrt hätte; nein, dennoch begreift er nicht, wie ihm so etwas in den Kopf kommen konnte und derart wirkt – noch fühlt er irgendwo im Innern Reste dieser Erregung, Angst und Beklemmung. Julinka ist doch ein kluges Mädchen und wird sich niemandem anvertrauen. In ihrer Unerfahrenheit (Doktor Zage kann jetzt noch nicht begreifen, wie es möglich ist, dass sie zu ihm kam – und Jungfrau war!) kann sie sich gar nicht vorstellen, wie ihre, meinetwegen unschuldigen Mitteilungen, Vertraulichkeiten (nur das nicht!) hätten missbraucht werden können. Sie hat keine Ahnung, wie sehr die Menschen darauf lauern, derartige Dinge missbrauchen zu können. Sie ist ein kluges Mädchen und wird niemandem erzählen, kein Wort darüber fallen lassen, dass sie bei ihm war, kein Wort davon erwähnen, was geschah (Doktor Zage ist bei diesem Gedanken wieder der Schweiß ausgebrochen). Wenn wir alles richtig bedenken, ist es ganz unnötig, sich aufzuregen. (Julinka regt sich nicht auf, nur Doktor Zage überkam erneut eine Angstwelle.) Er legt Julinka ans Herz: darüber mit niemandem zu sprechen! Es ist unnötig, sie zu belehren,beide haben Feinde: die Leute lauern, sie lauern boshaft, um Menschen durch üble Nachrede zu zerstören. Er fürchtet sich vor ihnen nicht, nur Julinka ist unaufmerksam, er fürchtet sich davor nicht.
Innerlich muss er über seine Angst lachen! Kann das jemanden wundern?! Wie hätte ein anderer an seiner Stelle gehandelt?! Eine Welle Selbstvertrauen steigt in ihm auf. Er spürt Mitgefühl für Julinka und muss im Geist über sich selbst lachen! Wenn die Leute wüssten, dass die schöne Julinka seine Geliebte ist! Wenn er das so erzählen könnte, wie sie zu ihm kam, wie bereitwillig sie zu ihm kam! Wenn er das wenigstens seinen Freunden anvertrauen könnte! Die Armen! Sie warten darauf, Julinka auf der Straße grüßen zu dürfen! Wenn er ihnen Einzelheiten erzählen könnte! Sie wären genau wie er überrascht, dass Julinka – er vertrieb diesen törichten Gedanken – übrigens: Wer wäre so diskret wie er, kein Wort darüber, nicht mal eine Anspielung fallen zu lassen? Nicht einmal seinen Freunden gegenüber würde er damit prahlen?!
Er hat Julinka mit einem Lächeln angeschaut, begreift nicht, wie er sich so erregen konnte. Julinka ist unerfahren, sie erwartet noch – selbst er hat bis jetzt nicht seine Überraschung überwunden –, erwartet offenbar noch irgendwelche Romanfloskeln. Vielleicht wäre es an der Zeit gewesen, ihr dieses in verrauchten Nächten gereifte Obst aus der Weinstube anzubieten, vielleicht wäre es an der Zeit gewesen, ihr diesen hässlich
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