Bel Canto (German Edition)

er sein Ziel nicht erreicht hat, kann für ihn keine Rede von Heiraten sein; es wäre eine Enttäuschung für seine Eltern, für seine Freunde, für seine Heimat, die Männer wie Doktor Zage braucht. Kann Julinka überhaupt begreifen, zu welcher Entsagung ihr Geliebter fähig sein muss?!
    Julinka würde um keinen Preis eingestehen, dass es ihr an Verständnis mangelt. (Julinka, spiel tapfer deine erste große Rolle, ich muss leider sagen, an allem ist nicht nur Doktor Zage schuld!) Würde sich Doktor Zage nicht schämen, zöge er ein Blatt Papier aus seinem Schreibtisch und ließe Julinka eine Erklärung unterschreiben: sie gibt als seine Geliebte alle daraus entspringenden Ansprüche auf.
    Doktor Zage ist ein kluger Mann, mehr als das, er hält sich für einen unwiderstehlichen Liebhaber und weiß, so zu handeln ist nicht möglich, aber nur das würde den Angstschweiß trocknen, nur das würde ihn vom Argwohn gegenüber Julinka befreien: dem Mädchen aus guter Familie, dem Mädchen, das auch mit verheirateten Männern kokettiert, ja, Doktor Zage beobachtete das kürzlich im Theater, dem Mädchen, das ohne Umstände in die Wohnung eines jungen Mannes kommt, dem Mädchen, das sich benimmt, als wäre es nicht Jungfrau, und einen anständigen jungen Mann in eine peinliche Situation bringt, ein solches Mädchen ist in den Augen Doktor Zages zu allem fähig.
    Doktor Zage wirft sich im Geist vor, dass er sich in die Situation hat treiben lassen, er wirft sich vor, dass er sich von Julinkas Schönheit, von ihren Reizen hat bezaubern lassen. Er ist aber ein gesunder junger Mann, der es fertig bringt, sein Verhalten zu entschuldigen. Jeder an seiner Stelle würde sich schlimmer benehmen, rücksichtsloser, würde Julinka seine Meinung sagen. Er würde sich zu ihr nicht wie die anderen verhalten: er wird ihr nicht klarmachen, dass er eigentlich betrogen worden sei. Eigentlich könnte sich niemand wundern, würde er seine Überraschung, seine Unzufriedenheit, seinen Ärger zeigen.
    Wüssten seine Eltern, seine Freunde, die unbegrenztes Vertrauen zu ihm haben, davon, wären sie voller Besorgnis. Zum Glück wird er sie nicht enttäuschen: er wird aus dieser heiklen Situation einen Ausweg finden. Julinka muss begreifen, dass sie sich in einer bestimmten Situation ihm gegenüber unkorrekt betragen hat.
    Die Beklemmung Doktor Zages hat ein wenig nachgelassen: Keiner hätte sich unter ähnlichen Umständenanders verhalten, das muss schließlich jeder begreifen. Auch Julinka. Obwohl er sie liebt, kann er seinen Ruf nicht dem Gerede aussetzen, kann nichts versprechen, was er beim besten Willen nicht erfüllen könnte. Im Leben gibt es höhere Pflichten als die Liebe, höhere Pflichten als persönliches Glück: die Pflichten gegenüber den Eltern, gegenüber den Freunden, gegenüber dem Vaterland. Julinka ist doch ein außergewöhnliches Mädchen, sie begreift die Rücksichten Doktor Zages sich selbst gegenüber (was sie nicht tun würde, hätte Doktor Zage über sie diese Meinung).
    Julinka ist zu leichtgläubig! In seinem Fall, im Fall Doktor Zages war es eigentlich purer Zufall, dass sie einem Menschen begegnet war, dem sie vertrauen kann. Es hätte aber leicht passieren können, dass sie ihr Vertrauen einem Menschen geschenkt hätte, der dessen nicht wert, der fähig gewesen wäre, es zu missbrauchen. Ist ihr bewusst, in welcher Gefahr sie sich befand? Ja, Doktor Zage hat erst jetzt erkannt, dass Julinka leichtsinnig ist, ja, das ist das rechte Wort: leichtsinnig!
    (Wie könnte überhaupt bei jemandem der Gedanke auftauchen, Doktor Zage würde ein leichtsinniges Mädchen heiraten!) Sie hat keine Ahnung, wie sehr manche Männer das weibliche Vertrauen missbrauchen. Ach, Julinka ist noch jung und unerfahren, obwohl Doktor Zage nicht entgangen ist, wie kokett sie ist. Oh, Doktor Zage ist zwar ein junger Mann, aber er hat Erfahrungen, er brüstet sich damit nicht, ein Mensch mit seiner Zukunft, seiner Stellung muss Erfahrungen haben, sie sind eine notwendige Bedingung seiner Karriere. Julinka ist doch kein Kind mehr und begreift, was seine Stellung erfordert.
    Doktor Zage hat nicht im Sinn, Julinka etwas vorzuwerfen, er möchte sie nur freundschaftlich darauf aufmerksam machen, dass nicht alle Männer so ehrlich sind wie er, sie hätte auf einen Menschen treffen können, der willens gewesen wäre, ihre Zutraulichkeit auszunutzen und auch ihre – Leichtgläubigkeit. Mein Gott, er hatte doch keine Moralpredigt im Sinn, Julia kennt doch