Bel Canto (German Edition)
gerade benutzt oder über Intimitäten ihres Lebens. Ihre blauen Augen mit den naturdunklen Wimpern (durch Schminke betont) spielen, auch ohne Zuschauer, virtuos ihre Rolle – doch oh Schreck!, wenn einer auftauchte. Dann würde ihr Gesicht den mir so gut bekannten Ausdruck der Entschlossenheit annehmen: zu prüfen, ob man ihr dieses Mal glaubt. Falls es um Liebe geht – ob man ihr noch einmal oder endlich glaubt, dass sie eine einzigartige Geliebte ist, und falls es um Theater oder Gesang, um Film oder Rundfunk geht – dass sie die größte Künstlerin ist.
Ich denke an die Zeit, in der Giulia in Berlin lebte, da hatte ihr Gesicht noch nichts von der Maske, von der ich spreche. Es war ein sehr junges Gesicht, sehr entschlossen, äußerlich nichts als Jugend und dahinter Vorsätze: Rollen, in denen Giulia zur Geltung kommen wollte. Im Theater war sie Anfängerin mit unscheinbarer Stimme und unbedeutendem Talent, im Leben war sie Anfängerin – nein, nur im Theater kann man Anfängerin sein. Aber Giulia spielte Theater auch im Leben.
Ich sah sie zu jener Zeit bei Ronacher auftreten. Sie trat im Chor auf und es machte mir damals einige Mühe, sie dort zu entdecken. Sie kam mir unscheinbar vor. Und doch sagten Freunde zu Paul Gersten: »Bei Ronacher im Chor ist eine Blonde mit blauen Augen, die solltest du sehen!« Paul Gersten war kürzlich geschieden und hielt sich für einen äußerst unglücklichen Menschen, enttäuscht von der Liebe und von den Frauen. Vielleicht hätte er Giulia garnicht bemerkt, sie vielleicht, wie auch ich, eine Weile mit den Augen gesucht. Vielleicht hat ihm ein Freund geholfen: Die zweite links ist das! So hat er sie erblickt. In der Pause schickte er ihr seine Visitenkarte in die Garderobe: ob er nach der Vorstellung vor dem Theater auf sie warten dürfe.
Ach, Giulia war keine gewöhnliche Choristin, sie hatte in diesem Augenblick den Kopf voller Rollen. Sie erlaubte Paul Gersten, sie nach Hause zu begleiten, aber als er mit nach oben wollte, spielte sie ihm die Rolle des Mädchens aus guter Familie vor. Spürte Paul Gersten damals die Unstimmigkeit in der Rolle, die die Choristin bei Ronacher mit der Rolle der Tochter aus guter Familie verband?
Wahrscheinlich hat er das damals nicht gespürt, im Gegenteil, vielleicht erwachte in ihm gerade der Seelenzustand, den man gern »Liebe auf den ersten Blick« nennt. Ja, so erzählt Giulia davon: Wie oft hat sie mir diese glänzende Rolle vorgespielt, die sie vor Paolo spielte (Giulia spricht von ihm immer als Paolo), die Rolle der großen Künstlerin (obwohl sie bei Ronacher im Chor auftrat) und des Mädchens aus guter Familie (obwohl!).
Paolo habe ich nie gesehen, bis ich einmal ein Weihnachtsgeschenk erhielt, das von ihm stammte: Giulia schickte mir damals als Weihnachtsgeschenk ein Zigarettenetui aus echtem Schildpatt, beigelegt war ein in Kupfer getriebenes, aus einem alten religiösen Buch entnommenes Heiligenbildchen: ein Geschenk Paolos. Ich weiß nicht, was Giulia ihm damals über mich eingeredet hatte: Ich sei der einzige Verwandter, der gut von ihr denke? Der – selbst künstlerisch veranlagt, worauf Paolos Geschenk hindeutete – Verständnis für ihre Kunst äußere? Soungefähr trat ich in einer ihrer Erzählungen Paolo gegenüber auf, so wie sie das damals brauchte. Es ging ihr in dieser Zeit, dank Paolo, glänzend und mir blieb für immer beider Geschenk.
Ausführlicher erzählte mir Giulia nur von einem Diamantring, der Stein wunderbar in Linsenform geschliffen, was ihm ungewöhnlichen Wert gab. Paolo hat ihr das Geschenk am Tag nach ihrer Bekanntschaft gebracht, Giulia es selbstverständlich zurückgewiesen! Ein Mädchen aus guter Familie, auch wenn es zufälligerweise bei Ronacher auftritt, nimmt von einem Mann, den sie erst einen Tag zuvor kennengelernt hat, keine Diamantringe an.
Später, in den Jahren ihres Wohlstands, habe ich den wunderbar geschliffenen Diamanten an Giulias Finger oft gesehen. Am Tag nach ihrer Bekanntschaft mit Paolo trug sie ihn aber nicht.
Giulia hat Blumen bekommen. Sie hat Paolo in ihrer Wohnung empfangen, über die ich nicht viel mehr weiß, als dass dort ein großes weißes Eisbärenfell auf dem Boden lag, später sah ich es in Giulias Schlafzimmer. Ich weiß nicht, ob es das Fell war, das Paolo mit Hunde- oder Pferdekot von seiner Schuhsohle beschmutzt hatte. Er bemerkte es und kam natürlich in Verlegenheit. Giulia aber spielte ihre Rolle ausgezeichnet: Noch nach Jahren rühmte sie sich
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