Bel Canto (German Edition)
Kloster, an Amerika – das bedeutet, dass sie wieder ihren Renan, ihren Pascal, Geschlecht und Charakter herauskramen wird.
Ich wette hundert gegen eins, Giulia ist während ihres ganzen Aufenthaltes nicht entspannt. Ich verstehe aber, dass für sie der Gedanke, von so weisen und über die Armseligkeit des Lebens erhabenen Gedanken begleitet und behütet zu werden, ein bestimmter Trost ist.
Scheinbar werden sie aber ohne Einfluss bleiben, sogar im Gegensatz zu den Geschichten, die Giulia so gern, sei es aus Eitelkeit oder Überzeugung, »interessant« nennt. Ich wähle absichtlich eine ziemlich »romanhafte« Begebenheit. Vielleicht ist sie Giulia peinlich – nein, sie wird mir Böswilligkeit vorwerfen, ich würde alles ignorieren, was für sie »psychologisch interessant« sei. Sie erklärte mir das damals so: sie habe sich in einen Polizeibeamten verliebt, der am königlichen Hof diene. Er hielt sich damals in dem Kurort auf.
Ich sah diesen Polizisten öfter in der Beiwagenmaschine seines Kollegen, mit dem ich manchmal ins Kaffeehaus ging. Dann sagte ich zu Giulia: »Ich sah, ich traf deinen Wachtmeister.«
»Er ist ja ein einfacher Wachtmeister, das ist für meine Wünsche gerade genug!«
Giulia schwärmte von ihm als »brutale Kraft«, als »primitive Kraft«. In Wirklichkeit war es ein gut gebauter kräftiger Mann mittleren Alters, an ihm war nichts, was man als »primitive Kraft« beschreiben könnte, jedenfalls nicht mehr als das, was man robust nennt. Auf den ersten Blick war er einfach ein gesunder Mann. Mein Hang zur Realität wird mich von einem unrealistischen Ereignis abbringen, für die der robuste Kraft ausstrahlende Mann wie geschaffen ist.
Ach, wie viele schöne Nachmittage langweilte mich Giulia mit Gesprächen über die »primitive Kraft«! Wie träge glänzten die Wellen des Sees, welch träge Sinnlichkeit schaukelte auf den Booten mit Leinwandverdeck, mit den Rudern am Heck, wie für ein erfundenes Liebespaar geschaffen!
Giulia sprach über die »primitive Kraft«, über die »Psychologie« und benutzte ihre gepflegten Stimmbänder (die nicht so schnell ermüden) für Ausdrücke des gängigen literarischen Jargons.
Ich beobachtete dabei die Fische im Wasser, erinnerte mich, wie ich hier als Kind das erste Mal mit den Eltern war, erinnerte mich an den leicht nebligen Morgen, als wir mit Vater und Mutter über den See ruderten; als kleines Kind stießen mich die zu einem Roman passenden Mittel merkwürdig ab: die Ruderbarke, der See, obwohl ich am Ende ungern die Freunde verließ, die ich dort gefunden hatte. Wie einst, nur in umgekehrter Richtung, steuern wir mit Giulia über den See auf das damals unbewohnte Schloss zu, in dessen Nähe wir aber wohnten.
Hätte ich in diesem Moment die Aufgabe, die Kindheit eines Königs zu beschreiben, würde ich mich selbst in einerMatrosenuniform sehen, in Begleitung der Eltern. Mutter soll der Schönheit der damaligen Königin in keiner Weise nachstehen, wenigsten auf dem Bild. Mein Vater trug freilich nie eine Uniform, er mochte sie nicht; nie hatten sein Bart, sein Schnurrbart, jenen sorgfältig gepflegten Schnitt, den königliche Haare auszeichnen; vor allem hatten seine Augen nicht den Blick wie auf den vornehmen Portraits. Nie konnte der Fotograf auch nur eine Sekunde lang denken: Ich fotografiere einen König! Aber selten sieht man den Augen einer Fotografie den Herrscher an.
Daran dachte ich, als ich die Fische im Wasser sah, wie damals als kleiner Junge, daran dachte ich, als mir Giulia die Anziehung der »primitiven Kraft« erklärte, ihr Eingriff in die »Psychologie«. Ich glaubte, dass mich schon als Kind das Romanhafte abgestoßen hat.
Soll ich Giulia von ihren Gedanken ablenken und sie auf die Villen am Seeufer aufmerksam machen, ihr erzählen, welche davon wem gehört, sie auf Leute, die dort wohnen, aufmerksam machen, auf ein paar romanhafte Schicksale?
Aber bevor ich mich entschließen werde, ihr ein paar dieser Geschichten zu erzählen, wird sie selbst über die im prunkvollen Stil des vergangenen Jahrhunderts erbaute Villa, an der wir gerade vorbeigehen, zu sprechen anfangen, über Miramare, die fast immer unbewohnte Villa, deren Besitzer vom sprichwörtlichen Unglück verfolgt sind: der einzige Sohn ist beim Baden im See ertrunken. Die jungen Neuvermählten endeten aus unerklärlichen Gründen durch Selbstmord. Die angebetete Frau ist, wie auch das Kind, bei der Geburt gestorben. Der letzte Besitzer hat an der Börse alles
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