Belladonna
durfte sie nicht nachgeben. Der vergangene Abend war ein Fehler gewesen, aber auch ein notwendiger Fehler. Zweifellos hatte sie es
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gebraucht, sich gehen zu lassen, so stark zu trauern, wie es ging, ohne zu zerbrechen.
An diesem Morgen war es jedoch anders. Lena hatte sich gezwungen, Freizeithosen und ein hübsches Jackett anzuziehen, die Garderobe, die sie jeden Tag bei der Arbeit trug. Als sie ihr Holster umschnallte und die Waffe prüfte, hatte Lena den Eindruck gehabt, wieder in die Rolle eines Cop zu schlüpfen und sich nicht me hr nur als die Schwester eines Mordopfers zu fühlen. Dennoch, ihr Kopf schmerzte weiterhin, und ihre Gedanken schienen sich wie Kleister in ihrem Gehirn festgesetzt zu haben. Mit einem bisher nie gekannten Mitgefühl konnte sie nachvollziehen, wie Menschen zu Alkoholikern wurden.
Irgendwo im Hinterkopf kam ihr immer wieder der Gedanke, dass ein starker Drink bestimmt eine Menge Dinge wieder ins Lot brächte.
Die Tür zum Besprechungsraum ging knarrend auf, und Lena erkannte beim kurzen Aufblicken Sara Linton, die mit dem Rücken zu ihr auf dem Flur stand. Sara sagte etwas zu Jeffrey, was nicht gerade höflich wirkte. Lena durchzuckte ein leichtes Schuldgefühl wegen der Art, wie sie Sara am Abend zuvor behandelt hatte. Trotz allem, was Lena gesagt hatte, wusste sie doch, dass Sara eine gute Ärztin war. Wie man hörte, hatte Dr.
Linton eine viel versprechende Karriere in Atlanta aufgegeben, um nach Grant zurückzukehren. Lena sah ein, dass sie sich bei ihr entschuldigen musste, aber im Augenblick mochte sie nicht einmal daran denken. Wenn in solchen Angelegenheiten Buch geführt würde, dürfte bei Lena das Verhältnis Gefühlsausbruch zu Entschuldigung wohl deutlich zugunsten der Ausbrüche ausfallen.
«Lena», sagte Sara, «komm mit mir nach hinten.»
Lena blinzelte, fragte sich, wann Sara den Raum durchquert haben mochte. Sie stand neben der Tür zur Ausrüstungskammer.
Lena schoss von ihrem Stuhl hoch und vergaß dabei den
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Kaffee. Etwas davon spitzte auf ihre Hosen, aber sie machte sich nichts daraus. Sie stellte die Tasse auf den Fußboden und folgte Saras Aufforderung. Die Ausrüstungskammer war groß genug, um als Raum bezeichnet zu werden, aber durch ein Schild an der Tür war sie vor Jahren als Kammer ausgewiesen worden, und niemand hatte sich die Mühe einer Richtigstellung gemacht.
Neben anderen Dingen wurden hier Beweismaterial,
Notfallausrüstungen und Puppen für Wiederbelebungsübungen aufbewahrt, die die Polizei im Herbst abhielt.
«Hier», sagte Sara, «setzen Sie sich.»
Wieder tat Lena wie geheißen. Sie sah zu, wie Sara eine Sauerstoffflasche hinausrollte.
Sara schloss eine Sauerstoffmaske an der Flasche an und sagte: «Ihnen tut der Kopf weh, weil der Alkohol den Sauerstoffgehalt Ihres Blutes reduziert.» Sie spannte das Gummiband der Maske und hielt diese Lena entgegen. «Atmen Sie langsam und tief. Dann dürften Sie sich schon bald besser fühlen.»
Lena nahm die Maske. Sie traute Sara nicht so ganz, aber in diesem Moment hätte sie einem Stinktier den Hintern geküsst, wenn ihr jemand gesagt hätte, dass dann ihre Kopfschmerzen aufhörten.
Nach ein paar tiefen Atemzügen fragte Sara: «Schon besser?»
Lena nickte, denn es ging ihr wirklich besser. Sie war zwar noch nicht wieder die Alte, aber zumindest kriegte sie jetzt die Augen ganz auf.
«Lena», sagte Sara und nahm ihr die Maske wieder ab. «Ich wollte Ihnen zu etwas, das ich entdeckt habe, eine Frage stellen.»
«Yeah?», sagte Lena, beschlichen von dem Gefühl, auf der Hut sein zu müssen. Sie rechnete damit, dass Sara versuchen würde, ihr auszureden, an der Lagebesprechung teilzunehmen, aber was die andere Frau dann sagte, überraschte Lena.
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«Als ich Sibyl untersucht habe», begann Sara und stellte die Sauerstoffflasche zurück an die Wand, «stieß ich auf eine physische Eigentümlichkeit, die ich eigentlich nicht erwartet hätte.»
«Und die wäre?», fragte Lena, deren Verstand langsam wieder zu funktionieren begann.
«Ich glaube nicht, dass es von Bedeutung für den Fall ist, aber ich werde Jeffrey sagen müssen, was ich herausgefunden habe.
Ich bin nicht befugt, eine eigenmächtige Entscheidung zu treffen.»
Obwohl Sara sie von den Kopfschmerzen befreit hatte, konnte Lena keine Geduld für ihre Spielchen aufbringen. «Wovon reden Sie eigentlich?»
«Ich rede von der Tatsache, dass das Hymen Ihrer Schwester bis zur Vergewaltigung noch intakt gewesen
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