Belladonna
Sara je gesehen hatte, würde mit größter Wahrscheinlichkeit innerhalb eines Jahres sterben.
Sara bändigte ihr Haar mit einer Spange zum Pferdeschwanz, während sie darauf wartete, dass sich das Waschbecken mit kaltem Wasser füllte. Sie lehnte sich darüber und hielt inne, weil ihr ein Übelkeit erregender süßlicher Geruch entgegenschlug.
Pete hatte wahrscheinlich Essig in den Ablauf geschüttet, damit es nicht faulig stank. Das war ein alter Klempnertrick, aber Sara hasste den Essiggeruch.
Sie hielt den Atem an, als sie sich wieder über das Becken beugte und sich Wasser ins Gesicht spritzte, um wach zu werden. Ein Blick in den Spiegel zeigte, dass nichts besser geworden war, sich aber ein nasser Fleck direkt unter dem Halsausschnitt ihres T-Shirts abze ichnete.
«Na toll», murmelte Sara.
Sie trocknete sich die Hände an den Hosenbeinen ab, während sie auf die Kabinen zuging. Nachdem sie den Inhalt eines Toilettenbeckens gesehen hatte, ging sie zur nächsten Kabine, der für Behinderte, und öffnete die Tür.
«Oh», hauchte Sara und trat schnell zurück. Sie blieb erst wieder stehen, als das Waschbecken gegen die Rückseite ihrer Beine drückte. Sie griff hinter sich und stützte sich darauf. Sie hatte einen metallischen Geschmack im Mund und musste sich zwingen, konzentriert zu atmen, um nicht ohnmächtig zu werden. Sie ließ den Kopf abrupt sinken, schloss die Augen und zählte volle fünf Sekunden ab, bevor sie wieder aufsah.
Sibyl Adams, eine Professorin am College, saß auf der Toilette. Ihr Kopf war nach hinten an die gekachelte Wand geneigt, die Augen hatte sie geschlossen. Ihre Hose war bis zu den Knöcheln hinuntergezogen, die Beine waren weit gespreizt.
Sie hatte eine Stichwunde im Unterleib. Blut füllte das
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Toilettenbecken, zwischen ihren Beinen tropfte es auf die Bodenkacheln.
Sara zwang sich, in die Kabine zu gehen, und hockte sich vor die junge Frau. Sibyls Hemd war hochgezogen, und Sara konnte einen großen senkrechten Schnitt erkennen, der über den gesamten Unterleib verlief, den Nabel durchtrennte und am Schambein endete. Ein weiterer Schnitt, noch tiefer, hatte unter ihren Brüsten eine klaffende waagerechte Wunde hinterlassen.
Von ihr stammte auch der größte Teil des Bluts, das noch immer am Körper hinunterrann. Sara legte die Hand auf die Wunde und versuchte, die Blutung zu stillen, aber das Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor, als drückte sie einen Schwamm aus.
Sara wischte sich die Hände am Hemd ab und neigte dann Sibyls Kopf nach vorn. Ein leises Stöhnen war zu hören, aber Sara vermochte nicht zu sagen, ob da nur Luft zwischen den Lippen einer Leiche entwich oder ob eine noch lebende Frau um Hilfe flehte. «Sibyl?», flüsterte Sara unter den größten Mühen, denn die Angst schnürte ihr die Kehle zu.
«Sibyl?», wiederholte sie und drückte mit dem Daumen Sibyls Augenlid auf. Die Haut der Frau fühlte sich heiß an, als sei sie zu lange in der Sonne gewesen. Eine große Quetschung bedeckte die rechte Seite ihres Gesichts. Sara erkannte den Abdruck einer Faust unter dem Auge. Als sie den blauen Fleck berührte, bewegten sich Knochen unter Saras Fingern und klickten wie zwei Murmeln, die aneinander stoßen.
Saras Hand zitterte, als sie die Finger an Sibyls
Halsschlagader presste. Sie spürte ein leichtes Flattern an ihren Fingerspitzen, aber Sara war sich nicht sicher, ob es sich um das Beben ihrer eigenen Hände handelte oder ob sich noch Leben regte. Sara schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, die beiden Empfindungen auseinander zu halten.
Ohne Vorwarnung verkrampfte sich der Körper, zuckte heftig, stürzte nach vorn und riss Sara zu Boden. Eine Blutlache
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breitete sich um sie beide aus, und instinktiv versuchte sie sich in den Boden zu krallen, um unter der krampfhaft zuckenden Frau hervorzukommen. Mit Füßen und Händen tastete sie nach einem Halt auf dem glatten Toilettenboden. Schließlich schaffte Sara es, unter der Frau hervorzurutschen. Sie drehte Sibyl auf den Rücken, barg ihren Kopf in den Armen und gab sich alle Mühe, ihr über die Zuckungen hinwegzuhelfen. Plötzlich endeten die Krämpfe. Sara legte das Ohr an Sibyls Mund, horchte auf Atemgeräusche. Es gab keine.
Sara ließ sich auf die Knie nieder und drückte auf Sibyls Brustkorb, versucht, wieder Leben in ihr Herz zu pressen. Sara hielt der jüngeren Frau die Nase zu und atmete ihr Luft in den Mund. Sibyls Brustkorb hob sich ganz kurz, aber mehr geschah nicht.
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