Belladonna
war auf ungekünstelte Weise attraktiv.
Auf dem Foto trug sie ihr Haar in kleinen Zöpfchen links und rechts am Kopf. Sie hatte einen vorstehenden Schneidezahn, aber davon abgesehen sah sie aus wie das perfekte Mädchen von nebenan. Sie sah Sibyl Adams tatsächlich sehr ähnlich.
«Sie sind nicht in der Stadt», informierte Jenny Price, die Zimmergenossin des verschwundenen Mädchens. Sie stand händeringend in der Tür und sah zu, wie Jeffrey und Lena das Zimmer durchsuchten.
Sie fuhr fort: «Sie haben zwanzigsten Hochzeitstag und sind auf einer Kreuzfahrt auf die Bahamas.»
«Sie ist sehr hübsch», sagte Lena, hauptsächlich wohl, um das Mädchen zu beruhigen. Jeffrey fragte sich, ob Lena die Ähnlichkeit zwischen Julia Matthews und ihrer Schwester bemerkt hatte. Sie hatten beide einen olivfarbenen Teint und dunkles Haar. Sie sahen beide fast gleich alt aus, obwohl Sibyl zehn Jahre älter war. Jeffrey fühlte sich unwohl und stellte das Bild zurück, als ihm bewusst wurde, dass die beiden Frauen ja auch Lena ähnelten.
Lena wandte ihre Aufmerksamkeit Jenny zu und fragte:
«Wann ist Ihnen zum ersten Mal aufgefallen, dass sie verschwunden war?»
«Als ich gestern aus den Vorlesungen kam, glaub ich», antwortete Jenny. Eine leichte Röte trat auf ihre Wangen. «Sie war vorher auch schon mal eine Nacht weg, okay?»
«Klar», stimmte Lena zu.
«Ich dachte, sie wäre vielleicht mit Ryan unterwegs. Das ist ihr ehemaliger Freund.» Sie unterbrach sich. «Sie hatten sich vor ungefähr einem Monat getrennt. Ich hab sie vor zwei Tagen
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zusammen in der Bibliothek getroffen, so um neun Uhr abends.
Danach hab ich sie nicht mehr gesehen.»
Lena ging auf den Freund ein: «Es ist doch wohl ein ziemlicher Stress, wenn man versucht, eine Beziehung zu führen, aber gleichzeitig auch zu den Vorlesungen gehen und arbeiten muss.»
Jenny reagierte mit einem angedeuteten Lächeln. «Ja. Ryan studiert Landwirtschaft. Sein Arbeitspensum ist bei weitem nicht so groß wie das von Julia.» Sie verdrehte die Augen.
«Solange seine Pflanzen nicht eingehen, kriegt er die Bestnote.
Und wir lernen nächtelang und müssen darum kämpfen, Laborzeit zugeteilt zu bekommen.»
«Ich kann mich erinnern, wie es war», sagte Lena, obwohl sie nie das College besucht hatte. Die Unbefangenheit, mit der sie log, erschreckte und beeindruckte Jeffrey gleichermaßen. Er hatte nur wenige erlebt, die ein Verhör so perfekt zu führen verstanden.
Jenny lächelte und ließ die Schultern entspannt sinken. Le nas Lüge hatte das Kunststück fertig gebracht. «Dann wissen Sie ja, wie es ist. Man hat kaum Zeit, um Luft zu holen, geschweige denn für einen Freund.»
Lena fragte: «Sie haben sich getrennt, weil sie nicht genug Zeit für ihn hatte?»
Jenny nickte. «Er war ihr allererster Freund. Und es hat Julia echt mitgenommen.» Sie warf Jeffrey einen nervösen Blick zu.
«Sie hatte sich schwer in ihn verknallt, müssen Sie wissen. Und sie war echt krank vor Kummer, als sie sich trennten. Sie wollte überhaupt nicht mehr aus dem Bett aufstehen.»
Lena senkte die Stimme, als wolle sie Jeffrey außen vor lassen. «Als Sie die beiden in der Bibliothek sahen, waren sie nicht gerade am Studieren.»
Jenny sah zu Jeffrey hinüber. «Nein.» Sie lachte nervös.
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Lena machte ein paar Schritte, bis sie ihm den Blick auf das Mädchen versperrte. Jeffrey verstand. Er wandte den beiden Frauen den Rücken zu und gab vor, sich für den Inhalt von Julias Schreibtischschubladen zu interessieren.
Lena wählte jetzt einen ganz normalen Umgangston. «Was halten Sie denn von Ryan?»
«Sie meinen, ob ich ihn mag?»
«Ja», antwortete Lena. «Ich meine mögen nicht in dem Sinn.
Ich meine, ob Sie ihn für einen netten Kerl halten.»
Das Mädchen schwieg eine Weile. Jeffrey nahm ein Lehrbuch zur Hand und blätterte darin.
Schließlich sagte Jenny. «Na ja, er war irgendwie egoistisch.
Und es gefiel ihm gar nicht, wenn sie ihn mal nicht treffen konnte.»
«Wollte er sie irgendwie kontrollieren?»
«Ja, glaub ich schon», entgegnete das Mädchen. «Sie ist doch ein Landei, okay? Und Ryan nutzt das irgendwie aus. Julia weiß nicht viel von der Welt. Sie glaubt aber, dass er es tut.»
«Und, tut er's?»
«Mein Gott, nein.» Jenny lachte. «Ich mein, er ist kein schlechter Kerl -»
«Natürlich nicht.»
«Er ist eben...» Sie hielt inne. «Er hat es nicht gern, wenn sie mit anderen Leuten spricht, okay? Er, also er hat wahrscheinlich Angst, sie könnte
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