Belladonna
Glasscheibe bestellen können, solange wir hier sind.»
«Yeah», knurrte Matt und ging zum Wagen.
Frank wollte ihm folgen, aber Jeffrey hielt ihn zurück. Er fragte: «Haben Sie eine Ahnung, wer das getan haben könnte?»
Einige Sekunden lang betrachtete Frank seine Füße. «Matt war den ganzen Morgen mit mir zusammen, wenn Sie darauf hinauswollen.»
«Wollte ich.»
Frank sah wieder auf. «Ich will Ihnen was sagen, Chief, wenn ich rausfinde, wer das war, kümmere ich mich drum.»
Er wartete nicht darauf, was Jeffrey dazu zu sagen hatte. Er drehte sich um und ging zu Matts Wagen. Jeffrey wartete, bis sie abgefahren waren, bevor er den Weg zum Haus von Will Harris hinaufging.
Er klopfte sanft an die Fliegentür, bevor er hineinging. Will Harris saß wieder in seinem Sessel, ein Glas Eistee neben sich.
Er stand auf, als Jeffrey das Zimmer betrat.
«Ich wollte gar nicht, dass Sie extra herkommen», sagte Will.
«Ich hab's einfach gemeldet. Meine Nachbarin hat mir irgendwie Angst gemacht.»
«Welche?», fragte Jeffrey.
«Mrs. Barr auf der anderen Seite.» Er zeigte aus dem Fenster.
«Sie ist eine ältere Frau und mächtig ängstlich. Sie hat aber gesagt, sie hat nichts gesehen. Ihre Leute haben sie schon befragt.» Er ging zu seinem Stuhl zurück und hob ein Stück weißes Papier auf. «Ich hab es aber auch mit der Angst gekriegt, als ich das hier sah.»
Jeffrey nahm den Zettel, und es stieß ihm sauer auf, als er die
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drohenden Worte las, die mit der Maschine auf den weißen Bogen Papier getippt waren. Die Botschaft lautete: «Pass schön auf dich auf, Nigger.»
Jeffrey faltete den Zettel zusammen und stopfte ihn in die Tasche. Er stemmte die Hände in die Hüften und sah sich im Zimmer um. «Hübsch haben Sie es hier.»
«Vielen Dank», entgegnete Will.
Jeffrey drehte sich zu den vorderen Fenstern um. Er hatte kein gutes Gefühl bei dieser Sache. Das Leben von Will Harris war nur deswegen in Gefahr, weil Jeffrey am Tag zuvor mit ihm gesprochen hatte. Er fragte: «Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich heute Nacht hier bei Ihnen auf dem Sofa schlafen würde?»
Will wirkte verblüfft. «Glauben Sie, das ist notwendig?»
Jeffrey zuckte die Achseln. «Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.»
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ZWÖLF
Lena saß bei sich zu Hause am Küchentisch und starrte auf die Salz- und Pfefferstreuer. Sie gab sich alle Mühe, im Kopf zu ordnen, was heute geschehen war. Sie war überzeugt, dass Ryan Gordons einziges Verbrechen darin bestand, ein Arschloch zu sein. Wenn Julia Matthews klug war, war sie nach Hause zurückgekehrt oder machte sich eine Weile rar, um ihren Freund loszuwerden. Der Besuch von Jeffrey und Lena im College hatte nicht den geringsten Hinweis erbracht. Noch immer gab es für den Mord an ihrer Schwester keinen Verdächtigen.
Mit jeder Minute, die verstrich, mit jeder Stunde, die keine handfesten Hinweise auf den Mann brachte, der ihre Schwester ermordet hatte, merkte Lena, dass ihre Wut immer größer wurde. Sibyl hatte Lena stets gewarnt, dass Wut gefährlich sei, dass sie auch anderen Gefühlen gestatten müsse, sich durchzusetzen. Momentan konnte Lena sich jedoch nicht vorstellen, je wieder glücklich zu sein oder auch nur traurig. Sie war betäubt von dem Verlust, und Wut war die einzige Emotion, die ihr das Gefühl vermittelte, noch am Leben zu sein. So schloss sie ihre Wut geradezu in die Arme, gestattete ihr, wie ein Krebsgeschwür in ihr zu wachsen, damit sie nur nicht zusammenbrach und zu einem ohnmächtigen Kind wurde. Sie brauchte ihre Wut, um die Situation durchzustehen. Wenn Sibyls Mörder erst einmal erwischt worden war und man auch Julia Matthews gefunden hatte, würde Lena sich Trauer zugestehen.
«Sibby.» Lena schluchzte und schlug die Hände vor die Augen. Selbst während der Vernehmung von Gordon waren Lena immer wieder Bilder von Sibyl in den Sinn gekommen.
Und je mehr sie sie abzuwehren versuchte, desto eindringlicher waren sie geworden.
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Es waren unerwartete Rückblenden, diese Erinnerungen. Eben noch saß sie Gordon gegenüber und musste mit ansehen, wie kläglich er sich aufspielte, und im nächsten Moment war sie zwölf Jahre alt, war am Strand und führte Sibyl hinunter ans Wasser, damit sie dort gemeinsam spielen konnten. Schon bald nach dem Unfall, der Sibyl hatte erblinden lassen, war Lena gleichsam zum Augenlicht ihrer Schwester geworden: Durch Lena konnte Sibyl wieder sehen. Bis zum heutigen Tag war Lena davon überzeugt, dass sie
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