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Belladonna

Belladonna

Titel: Belladonna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Slaughter
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abgehört hatte, und Lena, die Sibyl bei Experimenten geholfen hatte. Und all das war Sibyl zuliebe nur geschehen, damit sie sich allein der Welt stellen, einen Job bekommen und sich ihr Leben einrichten konnte.
    Lena klappte das Bügelbrett auf und breitete das Kleid darauf aus. Sie strich den Stoff glatt und erinnerte sich an das letzte Mal, als sie dieses Kleid getragen hatte.
    Sibyl hatte Lena gebeten, sie zu einer Fakultätsparty am
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    College zu begleiten. Sie hatte auch eingewilligt, obwohl die Bitte sie sehr überrascht hatte. Es bestand eine deutliche Kluft zwischen den Leuten vom College und denen aus der Stadt, und sie hatte sich dort unbehaglich gefühlt, umgeben von Leuten, die nicht nur ihr College abgeschlossen, sondern noch weiterstudiert und höhere akademische Grade erworben hatten. Lena war zwar keine tumbe Landpomeranze, aber sie wusste noch ganz genau, dass sie das Gefühl gehabt hatte, völlig fehl am Platz zu sein.
    Sibyl hingegen war ganz in ihrem Element gewesen. Lena konnte sich entsinnen, sie mitten unter den Anwesenden gesehen zu haben, wo sie mit eine r Gruppe von Professoren sprach, die ganz offensichtlich an dem, was sie zu sagen hatte, wirklich interessiert waren. Niemand starrte sie an, wie es oft gewesen war, als die Mädchen heranwuchsen. Niemand machte sich lustig über sie oder kommentierte abfällig die Tatsache, dass sie nicht sehen konnte. Und so war Lena zum ersten Mal in ihrem Leben bewusst geworden, dass Sibyl sie nicht brauchte.
    Nan Thomas hatte mit dieser Erkenntnis nichts zu tun. Da irrte Hank. Sibyl war vom ersten Tag an unabhängig gewesen.
    Sie wusste für sich zu sorgen. Sie war beweglich und kam herum. Sie mochte blind gewesen sein, aber in mancherlei Hinsicht war sie sogar hellsichtig. In mancherlei Hinsicht vermochte Sibyl andere Menschen besser einzuschätzen als jemand, der sehen konnte, weil sie wirklich hörte, was die Menschen sagten. Sie bemerkte den Wechsel im Tonfall, wenn sie logen, oder das Beben in ihrer Stimme, wenn sie die Fassung verloren. Sie hatte Lena besser verstanden als jeder sonst.
    Hank klopfte an die Tür. «Lee?»
    Lena schnauzte sich die Nase und merkte erst dabei, dass sie geweint hatte. Die Tür öffnete sie nicht. «Was denn?»
    Seine Stimme war gedämpft, aber sie konnte ihn klar und deutlich verstehen. Er sagte: «Tut mir Leid, was ich gesagt hab, Liebes.»
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    Lena atmete tief durch. «Schon okay.»
    «Ich mach mir nur Sorgen um dich.»
    «Mir geht es gut», sagte Lena und schaltete das Bügeleisen ein. «In zehn Minuten können wir gehen.»
    Sie betrachtete die Tür, sah, wie sich der Knauf leicht bewegte und dann in die Ausgangsstellung zurückrutschte, als er losgelassen wurde. Danach hörte sie seine Schritte, als er den Flur hinunterging.

    Das Brock Funeral Home war randvoll mit Sibyls Freunden und Kollegen. Nach zehn Minuten, in denen sie Hände geschüttelt und Beileidsbekundungen von Menschen
    entgegengenommen hatte, die ihr noch nie im Leben begegnet waren, spürte Lena, dass sich ihr der Magen immer mehr zusammenkrampfte. Sie hatte das Gefühl, explodieren zu müssen, weil sie zu lange stillgestanden hatte. Sie wollte nicht an diesem Ort sein und ihren Kummer mit fremden Menschen teilen müssen. Der Raum schien um sie zu schrumpfen, und Lena schwitzte, obwohl die Klimaanlage so weit
    heruntergeregelt war, dass manche Leute ihre Mäntel anbehielten.
    «He», sagte Frank und stützte ihren Ellbogen in der hohlen Hand.
    Lena war überrascht von dieser Geste, aber entzog sich nicht.
    Sie war erleichtert, mit jemandem zu sprechen, der ihr vertraut war.
    «Gehört, was passiert ist?», fragte Frank mit einem Seitenblick auf Hank. Lena spürte, dass sie vor Verlegenheit rot anlief, weil sie wusste, dass Frank ihren Onkel bereits als Halunken abgestempelt hatte. Cops rochen so etwas eben meilenweit.
    «Nein», sagte Lena. Sie begleitete Frank an den Rand der
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    Versammlung.
    «Will Harris», begann er mit leiser Stimme. «Jemand hat einen Stein durch das Vorderfenster seines Hauses geworfen.»
    «Warum?», fragte Lena, obwohl sie die Antwort schon ahnte.
    Frank zuckte die Achseln. «Keine Ahnung.» Er sah sich über die Schulter um. «Ich mein - Matt.» Wieder das Achselzucken.
    «Er war den ganzen Tag mit mir zusammen. Ich weiß nicht.»
    Lena zog ihn in den Flur, damit sie nicht mehr flüstern mussten. «Sie meinen, Matt hat was getan?»
    «Matt oder Pete Wayne», sagte er. «Die sind die beiden Einzigen, die mir

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