Belles Lettres
tiefe, durch Selbstironie angereicherte Stimme. «Sie fragen sich jetzt wahrscheinlich», fuhr er fort, «wie eine solche Gruppe von, wie ich zu sagen pflege, unterschiedlichen, wenn nicht gar unvereinbaren Charakteren gemeinsam eine Zeitschrift für Literaturkritik zustande bringt. Das frage ich mich oft selbst. Was glauben Sie beispielsweise, was passiert, wenn zwei Redaktionsmitglieder unterschiedlicher Meinung über ein Buch sind?»
«Überlassen Sie das denn nicht dem Rezensenten?» fragte ich.
«Ach!» Meine Frage gefiel ihm. «Aber welchem Rezensenten schicke ich es, dem scharfen Rezensenten oder dem milden Rezensenten, dem John Simon oder dem Anthony Burgess?»
«Ich habe auch schon milde Rezensionen von John Simon gelesen», sagte ich.
«Ach! Aber nehmen wir mal an, besagtes Buch stammt nicht von einem toten Europäer. Sondern von einem lebenden Amerikaner, genauer gesagt von einem Amerikaner, der seit Jahren nicht belangt wird, obwohl er einen Mord...»
«Heller?» sagte ich.
Mr. Margin erbleichte. «Ich dachte eigentlich eher an...» «Styron?» sagte ich.
Diesmal erbleichte er nicht, sondern räusperte sich. «Sagen wir einfach: ein überschätzter Autor. Sie haben meinen Punkt trefflich illustriert. Ich sage ‹ überschätzter Autor › , aber damit meine ich natürlich nur: meiner Meinung nach überschätzt. Wir wollen also mal annehmen, daß ein anderes Redaktionsmitglied den Autor für alles andere als unterschätzt hält und meint, das neue Buch sei ein Meisterwerk. Wem schicken wir es dann, John Simon oder Anthony Burgess?»
«John Simon», sagte ich.
«Einverstanden. Und warum?»
«Mit Meisterwerken kennt er sich aus, mit echten und mit angemaßten.»
«Und Anthony Burgess?» fragte Mr. Margin.
«Er kennt sich mit echten Meisterwerken aus, aber nicht mit angemaßten.»
«Wieso das?»
«Er sagt nicht, daß sie angemaßt sind, er benutzt einfach seine anmaßende Stimme.»
Mr. Margins Augen verengten sich. «Ich sehe schon, daß Sie ein schlaues Kerlchen sind», sagte er.
Dieser Meinungsaustausch fiel mir einige Monate später wieder ein, als sich die Redaktion an einem Montagnachmittag zur wöchentlichen Konferenz in Mr. Margins Büro versammelt hatte. Alle Mitarbeiter waren mit den neuen Büchern erschienen, die sie oder er übers Wochenende gelesen hatten, um Rezensionsempfehlungen abzugeben. Die Prozedur lief üblicherweise im Uhrzeigersinn um den Konferenztisch ab, an dem wir saßen, begann zu Mr. Margins Linken mit Ellie Bellyband, die detailliert die Plots von vier oder fünf englischen Romanen nacherzählte - englische Erzähler waren ihre Domäne -, schließlich aber von Rezensionen abriet, weil die Romane nicht auf der Höhe ihrer Vorgänger waren, und setzte sich mit Ed Princeps zu Mr. Margins Rechten fort. Ed stellte dann sieben bis acht, manchmal sogar zehn akademische Sachbücher vor. Seine Begeisterung für Bücher war groß, für akademische Bücher enorm groß, und es fiel Mr. Margin immer schwer, auf eine Rezension zu verzichten, mochte das Thema auch noch so exotisch sein, nachdem Ed geschwärmt hatte, daß es witzig, anregend, bahnbrechend und traumhaft geschrieben sei und wir uns in den eigenen Finger schnitten, wenn wir es ignorierten.
An diesem Montagnachmittag gab Mr. Margin jedoch Ed als erstem das Wort, da er über einen besonderen Fall zu berichten habe. «Ed!» sagte Mr. Margin und nickte dabei wie ein Conferencier.
Selbst wenn sie nur aus ein oder zwei Worten bestanden, leitete Ed seine Beiträge stets mit einem Hüsteln, einer Kunstpause und einem Lächeln ein. Das Hüsteln war teils entschuldigend, teils wichtigtuerisch, das Lächeln war jungenhaft und diabolisch zugleich. Heute sagte er dramatisch: «Das hier ist ein ganz dicker Fisch.» Und tatsächlich lagen zwei dicke Bände gebundener Druckfahnen vor ihm.
Ich glaube, die anderen dachten, genau wie ich, es handelte sich um ein wissenschaftliches Standardwerk, an dem seit Jahren gearbeitet worden war. Es war jedoch Norman Mailers ägyptischer Roman, und alle horchten auf. Wir hatten seit Monaten davon läuten gehört, und obwohl Fahnenabzüge schon in den Buchclubs und Taschenbuchverlagen zirkulierten, hatten die Kritiker noch nichts zu sehen bekommen; jedenfalls bis jetzt nicht.
Persönlich fühlte ich mich etwas übergangen, weil ich glaubte, daß man mir bei Belles Lettres die amerikanische Gegenwartsliteratur als «mein Feld» zugewiesen hatte. Gleichwohl hatte Mr. Margin seine Gründe, Ed
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