Benjamin Rootkin - Zeiten voller Zauber, eine Weihnachtsgeschichte
und den Einsatz immer besserer Dampfmaschinen hatten viele Menschen in London ihre Arbeit verloren und schlugen sich nun als Tagelöhner durchs Leben.
Ben seufzte innerlich. Ihm blieb keine Wahl, er musste irgendwie Geld besorgen, um Lebensmittel und Medizin für die Andrews besorgen zu können. Im Geist überschlug er mehrere Möglichkeiten. Stehlen war eine davon, aber diesen Gedanken verwarf er sofort wieder, es musste auch anders gehen. Er musste eine Arbeit finden, die ihm genug einbrachte, dass er die Lebensmittel davon bezahlen konnte. Blieb das Problem mit Father Duncan, der Geistliche würde nie und nimmer erlauben, dass Ben eine Beschäftigung annahm. In solchen Dingen konnte der sonst so sanfte Priester eisenhart werden. Also wie die Sache angehen?
Die Kutsche bog in die Queen-Victoria-Street und fuhr nun in Richtung Tower Bridge. Langsam begann ein Plan in Bens Kopf zu reifen.
Zurück im Waisenheim machte sich Ben sofort auf die Suche nach Father Duncan, den er schließlich im Keller bei den Waschkesseln fand. Der Priester lag auf dem Rücken unter einem der Kessel und wechselte gerade eine geplatzte Dichtung aus. Zum Schutz vor der Kälte, und um sich nicht zu beschmutzen, hatte er eine Decke ausgebreitet. Über sein Gesicht rann der Schweiß, während er sich abmühte, eine festsitzende Schraube zu lösen.
„Father Duncan?“
„Hallo Ben. Schon zurück? Hast du die Lebensmittel ausgeladen und zu Mrs.Pearce in die Küche gebracht?“
„Ja, Father.“
„Gib mir bitte die große Rohrzange aus der Werkzeugkiste.“
Ben reichte sie ihm. Endlich löste sich die Schraube, und ein Schwall abgestandenes Wasser ergoss sich auf den Priester.
„Mist!“, fluchte dieser. „Entschuldige Ben, mein irisches Blut. Kann ich etwas für dich tun?“
„Ja, Father. Mrs.Goodman von Goodmans Lebensmittelladen lässt fragen, ob ich die Wochen bis Weihnachten bei ihr aushelfen kann.“
„Mrs.Goodman? Hat die nicht einen Neffen, der für sie arbeitet?“
„Ja, Will Crandel, aber der ist verschwunden, und jetzt steht sie ganz allein da.“
Father Duncan setzte vorsichtig die neue Dichtung ein und war dementsprechend abgelenkt, so dass er gar nicht richtig zum Überlegen kam.
„Wie viele Stunden am Tag wirst du weg sein?“
„Ich weiß nicht genau, aber ich nehme an, bis sie den Laden schließt.“
„Also gut, ich erlaube es dir, aber das verdiente Geld wird gespart und nicht für irgendwelchen sinnlosen Tand ausgegeben!“, sagte der Priester streng.
„Vielen Dank, Father.“
„So und jetzt geh zu den anderen, es ist Essenszeit.“
Ben, erleichtert darüber, wie die ganze Sache gelaufen war, stürmte die Stufen hinauf. Natürlich hatte er nicht vor, für Mrs.Goodman zu arbeiten, denn sie selbst hatte mehr als einmal betont, dass Kinderarbeit die Ausbeutung Schwächerer bedeutete. Ben hatte keinerlei Vorstellung davon, was ‘Ausbeutung’ sein konnte, aber er hatte die Inbrunst bemerkt, mit der Mrs.Goodman über dieses Thema sprach. Nein, in dem Lebensmittelgeschäft würde er keine Arbeit finden, aber auf dem Markt in der Kensington-Hall würde es bestimmt jemanden geben, der zwei geschickte Hände und zwei flinke Füße gebrauchen konnte. Mit lautem Knall schlug er die Tür zum Keller zu. Zurück blieb ein Geistlicher, der sich gerade fragte, wie es der Herrgott zulassen konnte, dass er nach fünf Jahren noch immer die falschen Dichtungen kaufte. Diese hier passte jedenfalls nicht. Fluchend setzte er den Ablasshahn wieder zusammen. Bens Anliegen war in diesem Augenblick schon vergessen, allerdings sollte sich Father Duncan später fragen, warum Mrs.Goodman nicht persönlich gekommen war und ihn um Bens Hilfe gebeten hatte.
Kapitel 6
Den ganzen Nachmittag schwebten Bens Gedanken in den Wolken. Irgendwie war es ein gutes Gefühl, anderen Menschen zu helfen. Seine gute Laune steigerte sich noch, als er Dr.Blake im Gang zum Schlafsaal begegnete.
Dr.Blake war ein noch junger Arzt, der einmal im Monat eine kostenlose Stippvisite im Waisenhaus abhielt. Ebenso wie der Kutscher Mr.Stendal, sah er es als seine Bürgerpflicht an, Bedürftigen zu helfen. Seine große, hagere Gestalt ging den Gang mit schleppenden, abgespannten Schritten hinunter. Den Kopf hielt er gesenkt, so als wolle er die Bodenplatten auf seinem Weg zählen. Erst im letzten Moment bemerkte er Ben und konnte einen Zusammenstoß vermeiden.
„Hallo Ben. Ich hätte dich fast über den Haufen gerannt.“
Ben sah die
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