Benkau Jennifer
Sichtfeld war noch begrenzt und in ihren Ohren rauschte es, als stände sie im Tosbecken der Niagarafälle. Alles, was sie deutlich erkannte, war Samuel, der sich an sie presste, als hielte allein sie ihn am Leben.
„Bin ich … zu spät?“ Ihre Stimme gehorchte ihr noch nicht, sie schien fremd.
Es verwunderte sie, dass sie sich mehr tot als lebendig fühlte, außerdem unsagbar erschöpft. Ihr Geist war ganz leicht zurück in ihren Körper gefahren, so, wie Moira es versprochen hatte. Doch was sie ihr, wohl aus Zeitmangel, nicht gesagt hatte, war, dass sie alle Willensstärke aufbringen musste, um diesen Körper auch wieder ins Leben zurückzuzwingen. Es hatte all ihre Kräfte gekostet. Nun wollte sie schlafen, eine Ewigkeit lang schlafen. Nur der Schatten einer Ahnung hielt sie wach. Ein unstet herumwirbelnder Gedanke, der ihr sagte, dass sie zuvor noch etwas zu erledigen hatte.
„Samuel“, japste sie noch einmal, diesmal lauter.
Jäh wich er so weit von ihr zurück, wie es möglich war, ohne dass er sie loslassen und ihren Kopf auf die Erde fallen lassen musste. Er starrte sie an, als wäre sie ein Geist. Helena konnte dummerweise nicht ganz ausschließen, dass dem so war.
Samuel schüttelte den Kopf. „Das … ist nicht … möglich.“ Sein Atem ging keuchend, er setzte mehrmals zu sprechen an, ohne ein Wort zu sagen. „Oh Gott, Helena!“, presste er schließlich hervor, drückte seine Lippen an ihre Stirn und wiederholte sich etliche Male. „Oh Gott, Helena.“
Irritiert stellte Helena fest, dass seine Stimme eigenartig belegt klang. Fast, als wäre er betrunken oder berauscht. Sie hob eine Hand an, wie konnten ihre Hände nur so schwer sein? Zittrig berührte sie seine feuchte Wange. Er hatte sich verändert, seine Gesichtszüge waren härter geworden. Es schien kaum wahrnehmbar, aber Samuel war nicht mehr derselbe. Doch fremd war er ebenso wenig. Wie schwer ihr Bewusstsein war, sie konnte es kaum davon abbringen, zu fallen.
„Ich kenne dich“, hauchte sie. Sie erkannte ihre eigene Stimme kaum mehr, die Worte schliffen, und schienen fragil, wie in die Luft gemalte Gedanken. „Im Schlaf habe ich dich gesehen.“
„Du hast von mir geträumt?“
„Nein. Du warst es, der träumte. Von dir selbst. Als du geschlafen hast, da sahst du aus wie jetzt.“
Er presste einen Laut hervor, der zugleich wie ein Schluchzen als auch wie ein Lachen klang. „Was ist passiert?“
„Ich erkläre dir alles. Später.“
Es war so anstrengend, zu sprechen. Sie hielt sich an ihm fest, spürte seine Wärme und lauschte seinen kaum verständlichen, tröstlichen Worten, mit denen er nicht nur sie, sondern auch sich selbst beruhigte. Die Erleichterung überwältigte Helena. Sie hatten es tatsächlich geschafft. Sie lebte, ebenso wie er, der Fluch war Geschichte. Samuel war frei, und sie würde ihn nicht mehr hergeben.
Kribbelnd krochen die Empfindungen nach und nach in ihren Körper zurück. Ihre Kleidung war durchnässt, vor Kälte begann sie zu zittern. Samuel schälte sich aus seiner Jacke und hüllte sie darin ein, obwohl auch seine Glieder bebten. Erst jetzt erkannte sie die Unmengen Blut auf seinem Hemd und erinnerte sich an den Kampf, bei dem er verwundet worden war.
„Du bist verletzt.“
Die Worte waren mehr ein verstörtes Krächzen. Er war nicht nur frei, nun war er auch sterblich.
„Ja“, stimmte er zu. Er lächelte ein fasziniertes Lächeln. „Und die Wunden werden morgen immer noch da sein. Also besteht kein Grund zur Eile.“
„Aber …“ Zur Sorge, wollte sie erwidern, doch er murmelte ein „Schsch“ an ihre Lippen und verschloss ihren Mund mit einerReihe von zarten Küssen.
„Kein aber“, murmelte er. „Lass mich einen Moment nur glücklich sein.“
Dann hob er sie hoch, geriet ins Taumeln und sackte zu Boden, Helena an seine Brust gepresst. Sein Gesicht war kalkweiß, nass von Schweiß und Regen. Er war blutbesudelt, seine Arme krampften vor Erschöpfung und er rang nach Luft. Dennoch lachte er.
„Himmel, Helena. Du haust mich um.“
Gemeinsam kämpften sie sich auf die Füße, stützen sich gegenseitig und hielten sich aneinander fest. Helena drückte die Handfläche auf seine größte Wunde, die immer noch blutete.
„Wir müssen dich in ein Krankenhaus bringen“, sagte sie, sich bewusst, dass dies Fragen nach sich ziehen würde.
Ihr Blick fiel auf den toten Förster. Der Mann war unschuldig, nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. In das Bedauern über seinen Tod
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