Benson, Ann - Alejandro Canches 02 - Die brennende Gasse
schon am ersten Tag, und das über eine Sache, auf die wir nicht einmal Einfluß haben.«
Er küßte sie leicht auf die Stirn. »Eine Sache, die ihren eigenen Lauf nimmt, egal, was wir darüber denken. Die Sonne wird verschwinden und wiederkommen, ohne sich um unsere Wünsche zu kümmern.« Dann erstarb sein Lächeln. »Es gibt andere Dinge, die sich nicht von allein lösen werden, denke ich.«
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, da spürte Kate schon schmerzlich das Vergehen der Zeit, den tragischen und unvermeidlichen Tod jedes kostbaren Augenblicks. Die Nacht war schon vergangen, der Tag schritt unaufhaltsam voran. Sie würden sich von ihrem Strohlager erheben und das Leben wiederaufnehmen, das sie zuvor geführt hatten – weitab von dem, was in der Nacht zwischen ihnen geschehen war. Karle mußte eine Erhebung vorbereiten, sie ihren père finden. Diese Liebesnacht würde nicht die beiden Schwerter beseitigen, die Gott selbst über ihre Häupter gehängt hatte. Trotzdem würde Père, sobald sie ihn gefunden hatte, die Veränderung an ihr zweifellos bemerken. Sie spürte sie selbst mit verwirrender Deutlichkeit. Konnte sie verhindern, daß man sie ihrem Gesicht ansah? Nein, auch nicht mit Hilfe der Gesegneten Jungfrau persönlich. Er würde auf den ersten Blick sehen, daß sie nicht mehr nur Tochter war.
Er kann nicht denken, ich würde ewig sein Kind bleiben. Diese Unmöglichkeit muß ihm klar sein!
Als Karle sich auf einen Ellbogen stützte, als wolle er aufstehen, klammerte Kate sich an seinen Arm.
Bitte noch nicht, dachte sie verzweifelt. »Wirst du mich jetzt schon verlassen?«
Er legte sich wieder hin, zog sie an sich und flüsterte ihr ins Ohr:
»Wenn ich die Wahl hätte, würde ich dich nie verlassen. Aber man kann keine Drachen töten, wenn man in den Armen der Dame liegt, die man beschützen möchte.«
»Die Drachen sollen warten.«
»Aber sie müssen dennoch getötet werden.«
Sie preßte sich an ihn. »Laß sie warten!«
Inzwischen wurden die Strahlen der schönen Sonne wieder länger, als sie einem weiteren Rendezvous mit dem Horizont entgegenstrebte. Schwer lastete das Schweigen auf Kate und Karle, während sie abermals die Rue des Rosiers aufsuchten; Kate mußte sich zwingen, einen Fuß vor den anderen zu setzen, so sehr fühlte sie sich von Zweifeln und Bedauern bedrückt. Welch seltsamen neuen Körper hat meine Seele geschaffen? fragte sie sich. Binnen eines Tages hat er einen eigenen Willen bekommen, der mir ganz fremd ist.
Doch welch lustvoller Ungehorsam war das, welch süße Scham! Sie war sich ihrer Weiblichkeit ungewöhnlich bewußt, während sie dahinschritt; zum erstenmal hatte sie sie so benutzt, wie von Gott vorgesehen. Gott hat es so gewollt! wiederholte sie sich innerlich.
Warum war es dann ein Grund zur Scham?
Ihr Kopf steckte voller Fragen, die sie sich noch nie gestellt hatte. Wenn ein Mann und eine Frau das Lager teilten, ging dann stets der Homunculus von ihm auf sie über und wuchs in ihr als ein Kind heran? Gewiß nicht, überlegte sie, sonst wären die Frauen ständig schwanger! Aber was, wenn es doch so wäre? Wohin verschwanden diese Homunculi, wenn sie im weiblichen Schoß nicht willkommen waren? Gab es in der Welt einen besonderen Ort für den nicht benutzten Beitrag eines Mannes zur Vaterschaft? Das erschien ihr nur vernünftig. Und was sollte eine Frau tun, wenn ihr Geliebter sie erkennen wollte, während ihrer Regel?
Für einen kurzen Moment sehnte sie sich nach einem Wiedersehen mit ihrer verstorbenen Mutter oder der Hebamme, Frau Sarah, die Antworten auf diese Fragen wüßten und sie mit einem freundlichen, verständnisvollen Zwinkern erteilen würden. Bei einem ihrer seltenen und schwierigen Gespräche über Frauenangelegenheiten hatte Père, der so liebevoll versuchte, ihr Vater und Mutter zugleich zu sein, gesagt, die Juden hätten strenge Regeln für die Aktivitäten von Mann und Frau im Bett. »Darin sind die Christen vernünftiger«, hatte er widerstrebend eingeräumt. »Sie erlegen ihnen keine anderen Beschränkungen auf als die, daß Mann und Frau vor ihrem Gott verehelicht sein müssen.«
Sie spürte den Stachel dieser einen, geheiligten Beschränkung, denn dagegen hatte sie eklatant verstoßen. Und plötzlich empfand sie unerklärliche Angst. Würde sie dafür in der Hölle schmoren? Bitte nicht, Herr! Habe ich unter Deiner Willkür nicht schon genug gelitten?
Wo blieb die Gerechtigkeit? Wie viele Frauen hatte ihr leiblicher Vater in sein
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