Beobachter
und diese Woche war Darcys Mutter an der Reihe. Aber natürlich nicht an einem Tag, an dem ihre eigene Tochter gar nicht zur Schule ging.
»Ich habe bei der Gelegenheit etwas Interessantes erfahren«, sagte Gillian, »nämlich dass ihr heute eine Mathearbeit schreibt!«
»Kann sein.«
»Nein, das kann nicht sein, das ist so! Ihr schreibt heute eine Arbeit, und ich hatte keine Ahnung davon.«
Becky zuckte mit den Schultern. Sie hatte einen Kakaobart auf der Oberlippe. Sie trug schwarze Jeans, die so eng waren, dass sich Gillian fragte, wie sie es geschafft hatte, in sie hineinzukommen, dazu einen ebenfalls schwarzen hautengen Pullover und ein schwarzes Tuch mehrfach um den Hals geschlungen. Sie tat alles, um cool zu wirken, aber mit dem Kakao am Mund sah sie einfach aus wie ein kleines Mädchen in einer seltsamen Maskerade. Natürlich hütete sich Gillian, ihr das zu sagen.
»Warum hast du nichts davon erwähnt? Ich habe dich jeden Tag gefragt, ob ihr irgendwann einen Test schreibt. Du hast behauptet, dass nichts ansteht. Weshalb?«
Becky zuckte erneut mit den Schultern.
»Könntest du mir bitte eine Antwort geben?«, fragte Gillian scharf.
»Weiß nicht«, nuschelte Becky.
»Du weißt was nicht?«
»Warum ich es nicht gesagt habe.«
»Ich vermute, du hattest keine Lust zu üben«, stellte Gillian resigniert fest.
Becky schaute sie böse an.
Was mache ich bloß falsch, fragte sich Gillian, was mache ich falsch, dass sie mich manchmal fast hasserfüllt ansieht? Warum wusste Darcys Mutter Bescheid? Warum wussten wahrscheinlich alle Mütter Bescheid?
»Putz deine Zähne«, sagte sie, »und dann komm. Wir müssen los.«
Auf der Fahrt zur Schule sprach Becky kein einziges Wort, sah nur zum Fenster hinaus. Gillian lag es auf der Zunge, sie zu fragen, ob sie sich die Arbeit zutraute, ob sie sich einigermaßen in dem Stoff auskannte, aber sie wagte es nicht. Sie fürchtete die patzige Antwort und hatte das ungute Gefühl, dann möglicherweise in Tränen auszubrechen. Das passierte ihr immer öfter in der letzten Zeit, und sie fand keinen rechten Weg, sich dagegen zu wehren. Sie war drauf und dran, zu einer Heulsuse zu mutieren, die mit ihren Lebensumständen haderte und sich vor dem provozierenden Verhalten ihrer zwölfjährigen Tochter fürchtete. Wie konnte man als Frau von zweiundvierzig Jahren so unsouverän sein?
Becky verabschiedete sich vor der Schule mit ein paar unfreundlichen Worten und stakste dann auf ihren mageren Beinen über die Straße. Ihre langen Haare wehten hinter ihr her, der Rucksack (»Man trägt heute keine Schul ranzen mehr, Mum!«) schaukelte auf ihrem Rücken. Sie drehte sich nicht zu ihrer Mutter um. In der Vorschule hatte sie ihr immer noch Kusshände zugeworfen und dabei über das ganze Gesicht gestrahlt. Wie hatte sie sich innerhalb weniger Jahre so sehr verändern können? Natürlich fühlte sie sich an diesem Morgen in der Defensive. Sie wusste, dass die Mathearbeit völlig danebengehen würde und dass es ein Fehler von ihr gewesen war, sich um das Üben zu drücken. Sie musste irgendwohin mit ihrem Ärger über sich selbst.
Gillian fragte sich, ob sie alle so waren. So aggressiv. So uneinsichtig. So mitleidslos.
Sie startete das Auto, fuhr aber nur eine Straße weiter und parkte dort am Bordstein. Öffnete das Fenster ein Stück weit und zündete sich eine Zigarette an. In den Gärten ringsum lag Raureif über den Gräsern. In der Ferne sah sie den Fluss wie ein Band aus Blei dahingleiten, die Themse, die hier schon sehr breit und dem Rhythmus von Ebbe und Flut unterworfen war und dem Meer zustrebte. Der Wind roch nach Algen und die Möwen schrien. Es war kalt. Ein unwirtlicher, grauer Wintermorgen.
Sie hatte einmal mit Tom darüber gesprochen. Fast zwei Jahre war das jetzt her. Genauer, sie hatte versucht, mit ihm darüber zu sprechen. Über die Frage, ob sie als Mutter etwas falsch machte. Oder ob die anderen Kinder genauso waren. Er hatte keine Antwort darauf gewusst.
»Wenn du etwas mehr Kontakt zu den anderen Müttern hättest«, hatte er schließlich gesagt, »dann wüsstest du es vielleicht. Du wüsstest, ob du etwas falsch machst. Du wüsstest vielleicht sogar, wie man es richtig machen könnte. Aber aus irgendeinem Grund weigerst du dich, dir ein Netzwerk aufzubauen.«
»Ich weigere mich nicht. Ich komme einfach nicht richtig klar mit den anderen Müttern.«
»Das sind aber ganz normale Frauen. Die tun dir doch nichts!«
Natürlich hatte er recht. Das war nicht
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