Beobachter
durch die schlimmste Hölle gegangen, durch die ein Kind gehen konnte. Niemand hatte ihr geholfen. Ihre Mutter nicht, aber auch sonst niemand in ihrer Umgebung, dem eine Wesensveränderung in dem kleinen Mädchen hätte auffallen können, die es mit Sicherheit gegeben hatte. Nachbarn hatten versagt, Lehrer, die Eltern ihrer Freunde. Gillian spürte nicht den kalten Hass, die Mordgier, die rücksichtslose Grausamkeit einer erwachsenen Frau in Tara.
Sie spürte die abgrundtiefe Verzweiflung eines hilflosen Kindes.
»Ich würde für dich aussagen, Tara. Jeder Richter, der deine Geschichte hört, wird …«
»… mich freudig ziehen lassen? Wie naiv bist du, Gillian? Natürlich werden sie mich einsperren, wenn sie mich kriegen. Sie werden sagen, dass selbstverständlich alles ganz schrecklich war früher, aber dass man mich schließlich nicht als tickende Zeitbombe frei herumlaufen lassen kann. Lustig, nicht? Roslin ist nicht hinter Gittern gelandet. Meine Mutter auch nicht. Burton spaziert fröhlich in der Gegend herum. Charity-Stanford wird seiner Strafe ebenfalls entgehen, weil ihn Liza, die blöde Kuh, wahrscheinlich nie im Leben anzeigt. Aber mich … mich erwischt es womöglich. Ich darf den Rest meines Lebens im Knast verbringen. So sieht die Gerechtigkeit auf dieser Welt aus! Und das werde ich nicht hinnehmen.«
Der Druck des Drahtes auf Gillians Hals verstärkte sich.
Sie schloss für einen Moment die Augen, mutlos und ohne eine Idee, wie sie Tara jetzt noch erreichen könnte. Als sie die Augen wieder aufschlug, glaubte sie, in der Ferne für eine Sekunde ein Licht aufblitzen zu sehen. Es war sofort wieder verschwunden, aber noch ehe Gillian es als eine verrückte Täuschung ihres überreizten Gehirns abtun konnte, tauchte es erneut auf. Diesmal hielt es etwas länger an, verschwand dann wieder. Tauchte wieder auf.
Gillian starrte in die Nacht, als wolle sie die Dunkelheit förmlich durchbohren mit ihren Blicken. Das konnte nicht sein, oder? Wahrscheinlich irgendein physikalisches Phänomen, Sternenlicht, das vom Schnee reflektiert wurde, oder etwas Ähnliches. Normalerweise hätte sie gedacht, Autoscheinwerfer zu sehen. Ein Auto, das näher kam, dessen Strahler aber durch das sanfte Auf und Ab der hügeligen Landschaft einmal sichtbar waren, dann wieder nicht. Doch das war absurd. Es gab sicher Jäger hier, Ranger, vielleicht sogar auch im Winter dann und wann Ausflügler. Aber nicht zu dieser nächtlichen Stunde. Selbst jugendliche Liebespaare, die sich ungestört vergnügen wollten, würden im Winter nicht derart tief in den District hineinfahren.
Mach dir bloß keine Hoffnung. Das ist nie im Leben ein Auto. Du bist hier vollkommen allein mit dieser durchgedrehten Frau, und du hast eine Drahtschlinge um den Hals und ein Messer an der Wange. Du steckst in einer richtig vertrackten Situation, und das ist das Ende.
Sie schloss wieder die Augen, öffnete sie, als wollte sie entgegen ihrer destruktiven Gedanken eine Wiederholung dessen, was sie eben gesehen hatte, erzwingen. Und wirklich, es funktionierte. Da war das Licht. Und nun erkannte sie auch, dass es sich tatsächlich um zwei Lichter handelte. Es war doch ein Auto, das dort durch die Nacht fuhr.
Und es kam näher.
Tara hatte es offenbar noch nicht bemerkt. Sie erzählte irgendetwas, das Gillian nicht verstand, und sagte dann plötzlich: »So. Es wird Zeit.« Sie begleitete ihre Worte mit einem Ruck an der Schlinge.
Gillian stieß einen Jammerlaut aus.
»Ich wollte es nicht selbst machen«, sagte Tara. »Du warst jahrelang meine Freundin, Gillian. Aber du bist eine Gefahr für mich geworden. Es wäre mir lieber gewesen, du wärest in der Hütte zu Tode gekommen, aber nachdem du ausbrechen musstest … Mir bleibt nichts übrig, als dich unschädlich zu machen. Ich will nicht ins Gefängnis. Verstehst du?«
»Ja.«
»Gut. Wir steigen aus. Schön langsam.«
Gillian überlegte verzweifelt, wie es ihr gelingen könnte, Zeit zu schinden. Irgendjemand fuhr die Straße entlang, und wenn sie jetzt nicht völlig vom Pech verfolgt wurde und der Unbekannte plötzlich in eine ganz andere Richtung abbog, musste dieser Wer-auch-immer innerhalb der nächsten zehn Minuten genau hier vorbeikommen. Sicher würde er sich wundern, wenn er ein Auto hier stehen sah. Er würde davon ausgehen, dass jemand eine Panne hatte, würde anhalten und nachsehen.
Nur blöd, wenn ich dann schon tot bin!
Es musste doch irgendein Thema geben, in das sich Tara noch verwickeln
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