Beobachter
auch so.«
Tara gab einen verächtlichen Laut von sich. »Du kennst den Kollegen? Der seinerzeit für den Fall Burton zuständig war?«
»Nein.«
»Aber ich. Ein Korinthenkacker. Ein Schlappschwanz. Einer, der von morgens bis abends von der Sorge um einen möglichst reibungslosen Verlauf seiner Karriere beherrscht wird. Weißt du, jeder von uns sichert sich möglichst gut ab, ehe er einen Fall zur Anklage bringt. Niemand steht gern als Verlierer vor Gericht. Aber letztlich können wir es nie zu hundert Prozent wissen. Wir wissen nicht, mit welcher Strategie der gegnerische Anwalt kommt. Welche Zeugen er vorlädt, welche unvorhersehbaren Wendungen der Fall plötzlich nimmt. Wir wissen nicht, wie der Richter entscheidet. Wir tragen immer ein Risiko. Und manche von uns sind risikofreudiger, manche sind es weniger. Burton hatte Glück. Der Typ, auf dessen Schreibtisch sein Fall gelandet war, ist dafür bekannt, sich dermaßen abzusichern, dass er von uns allen am seltensten Anklage erhebt. Ihm muss praktisch schon das Geständnis auf einem Silbertablett serviert werden, damit er den Mut fasst, sich damit aus der Deckung zu wagen. In Burtons Fall gab es jede Menge Unklarheiten. Verstehst du? Es besagt nichts, dass es nicht zur Klageerhebung kam, überhaupt nichts. Nicht bei dem Staatsanwalt, der für ihn zuständig war.«
»Aber …«
»Nichts aber!« Taras Stimme klang scharf. »Du willst sagen, dass du das nicht wusstest? Geschenkt! Du hast eine kleine Tochter. Ein wehrloses Kind. Und du lässt dich mit einem Kerl ein, gegen den wegen einer Sexualstraftat bereits ermittelt wurde? Du riskierst es, diesen Menschen vor die Nase deiner Tochter zu setzen? Nur weil du es mit deinem Ehemann nicht mehr aushältst, aber ganz ohne Mann auch nicht sein kannst? Du spielst mit der Unschuld, mit der körperlichen und seelischen Unversehrtheit deines Kindes? Und findest das normal ?«
»Ich …«
»Ja, ichichich! Dir geht es nur um dich. Du warst scharf auf ihn, und da hast du alle Bedenken einfach zur Seite gewischt. Hast dir alles schöngeredet. Er wird schon nichts getan haben! Das Mädchen, das ihn angezeigt hat, wird natürlich gelogen haben. Er ist ein Unschuldslamm! Weißt du, Gillian, das kann eine Frau tun, die nur für sich und für niemanden sonst die Verantwortung trägt. Auch da kann ich es nicht verstehen, aber bitte! Doch es gibt noch Becky. Und Becky zu retten, das war mein felsenfester Entschluss. Sie soll nicht durchmachen, was ich durchgemacht habe. Niemals.«
Gillian hustete wieder. Ihre Stimme normalisierte sich etwas, aber der Hals brannte wie Feuer.
»Du wusstest es schon vor Weihnachten?«, fragte sie. Sie hatte Tara erst im neuen Jahr von Johns Vorgeschichte berichtet, aber kurz nach Weihnachten hatte sie bereits ihren ersten Mordversuch an der einstigen Freundin gestartet. Und Tom, den völlig unschuldigen Tom, getötet. Es war so grauenhaft. So pervers und schrecklich. Eine Frau, die Amok lief. Und niemand, niemand hatte etwas bemerkt. Nicht der Hauch eines Verdachts war jemals auf die Staatsanwältin gefallen. In alle möglichen Richtungen war ermittelt worden, und sie hatte ungestört ihren Hass und ihr alles beherrschendes Rachebedürfnis ausleben können.
»Bei dem Namen Burton hat es in meinem Kopf geklickt. Ich konnte das nicht gleich einordnen, ich war ja noch in Manchester, als das alles passierte, aber ich wusste, dass irgendwann einmal jemand diesen Namen im Zusammenhang mit einem Ermittlungsverfahren genannt hatte. Für mich war es nicht schwierig, an die Akte zu kommen. Mir war übrigens auch sofort klar, dass du Bescheid wusstest. Du bist nicht gut im Lügen, Gillian. Als du mir schließlich die Wahrheit sagtest, habe ich mein Entsetzen nur gespielt. Ich wusste längst Bescheid.«
Gillian hustete erneut. Sie wünschte, der Feuerball in ihrem Rachen würde sich endlich auflösen. Sie hätte sich am liebsten eine ganze Handvoll Schnee in den Mund geschoben.
»Tara, geh nicht weiter auf diesem Weg, bitte. Es sind genügend Unschuldige gestorben. Diese beiden alten Frauen in London und Tunbridge … sie haben versagt, aber das rechtfertigt nicht ihren Tod. Tom hatte überhaupt niemandem etwas getan. Aber was du mir erzählt hast über deine Kindheit – ich kann verstehen, weshalb du nur noch diesen Weg gesehen hast. Ich kann es wirklich verstehen.«
»Ach ja?«
»Ja«, sagte Gillian verzweifelt. Sie erkannte, dass Tara ihr nicht glaubte, aber sie log nicht in diesem Moment. Tara war
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