Beobachter
direkt auf einen Infarkt zusteuerte, denn er erfüllte auf geradezu klassische Weise sämtliche Voraussetzungen.
»Mein Herz ist völlig in Ordnung«, sagte er dann.
Als ob er das wissen konnte – schließlich machte er, seit sie ihn kannte, einen riesigen Bogen um alles, was auch nur entfernt an eine Arztpraxis erinnerte.
Sie trat an ihn heran, legte ihm sacht ihre Hand auf den Arm. »Es kommt schon alles wieder in Ordnung«, sagte sie.
»Natürlich«, sagte Tom.
Er wusste nicht genau, wovon sie sprach, hatte aber den Eindruck, dass sie das Thema Becky verlassen hatte, dass es um etwas anderes ging. Es hatte etwas mit ihrer beider Distanz zu tun, damit, dass das Strahlen aus Gillians Augen verschwunden war. Damit, dass er zu viel arbeitete und fanatisch Tennis spielte und viel zu wenig Zeit mit seiner Frau verbrachte. Gillian machte ihm nie Vorwürfe wegen seiner zahllosen Überstunden, sein Unternehmen war auch ihr Unternehmen, sie sah die Schwierigkeiten, in denen sie alle steckten, seitdem die Welt in die härteste Rezession seit den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts gerauscht war. Sie war nicht die Frau, die lamentierte, weil ihr Mann mit aller Kraft um das kämpfte, was sie gemeinsam aufgebaut hatten. Auf irgendeiner Ebene verstand sie vielleicht sogar, weshalb er so exzessiv Sport trieb, begriff, dass hier ein Ventil für ihn lag, ohne das er seine mörderische Überlastung nicht hätte aushalten können.
Aber sie verstand nicht, weshalb er nicht mehr wirklich bei ihr war. Auch dann nicht bei ihr war, wenn er nachts neben ihr im Bett lag. Und sie litt darunter.
Er verstand es selbst nicht. Er liebte Gillian. Er wusste noch genau, wann ihm klar geworden war, dass er sie heiraten wollte und dass es nie wieder eine andere für ihn geben konnte: Während ihres Studiums hatten sie an einem Herbstwochenende eine Wanderung in den schottischen Highlands unternommen, mit Zelt und Kochgeschirr, bei wunderbarem, sonnigem Wetter. Um sie herum war die überwältigende Einsamkeit und Weite der Hochmoore gewesen, und die Hügel hatten im satten Lila des Heidekrauts geleuchtet. Abends hatten sie ein Lagerfeuer angezündet und sich später im Zelt zusammen in einen Schlafsack gekuschelt und einander in der plötzlich hereinbrechenden Kälte gewärmt. Als sie am nächsten Morgen hinauskrochen, war das Wetter umgeschlagen: Vor lauter Nebel konnten sie kaum noch die eigene Hand vor den Augen sehen. Sie traten den Rückweg an, aber an einem felsigen Steilhang, den sie hinaufklettern mussten, war Tom plötzlich ausgerutscht und so unglücklich gestürzt, dass er sich, wie sich später herausstellte, den Fuß gebrochen hatte. Er lag zwischen den Steinen im nasskalten Nebel, halb ohnmächtig vor Schmerzen, er musste sich übergeben und ihm war schwindelig, er hatte keine Ahnung, wie sie nun aus dieser verdammten Weltabgeschiedenheit hinauskommen und zu dem Parkplatz gelangen sollten, an dem er seine altersschwache Rostlaube von einem Auto abgestellt hatte. Gillian war zu Tode erschrocken gewesen, aber sie hatte sich schnell gefangen, war weder in Tränen ausgebrochen noch in entsetzte Hilflosigkeit versunken. Aus Zweigen und Mullbinden baute sie eine Schiene, die seinen Knöchel fixierte, sie schulterte das schwere Zelt und half Tom beim Aufstehen, und dann stützte sie ihn, den ein Meter neunzig großen Mann, über schmale Trampelpfade, durch Täler, in denen die Feuchtigkeit waberte, über felsige Höhen, auf denen die Kälte ihnen durch Mark und Bein ging. Sie munterte ihn auf, wenn ihn die Schmerzen quälten, sprach ihm Mut zu, und obwohl sie sich irgendwann vor Erschöpfung und unter dem Gewicht, das sie zu tragen hatte, kaum mehr auf den Beinen halten konnte, war sie unbeirrt weitergegangen, mit zusammengebissenen Zähnen und auf unerschütterliche Weise entschlossen.
Damals dachte er: Ich lasse sie nie wieder los.
Es hing nicht nur damit zusammen, dass er sie in diesen Momenten als seine Retterin empfand. Sie hatte ihm auch ihr ganzes Wesen offenbart: ihre Kraft. Ihren Willen, die Dinge zu tun, die getan werden mussten.
Sie hatten noch während des Studiums geheiratet.
An seinen Gefühlen hatte sich bis heute nichts geändert, jedenfalls nicht in seinem tiefsten Inneren, das wusste er. Noch immer war Gillian die Frau, die er liebte, die Frau, auf die er sich blind verließ. Seine Stütze, seine Kameradin. Aber um ihr das zu zeigen, hätte er innehalten müssen, und das gelang ihm nicht mehr. Er konnte
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