Beobachter
gibt hier ja keine Nachbarn, die Ihre Rufe hören.«
»Ach, das meinen Sie«, sagte Anne und entspannte sich.
»Ganz abgesehen davon, dass sich auf dieser Welt leider auch jede Menge zwielichtige Gestalten herumtreiben«, fuhr er fort. »Selbst ich würde mich hier dann und wann ängstigen, glaube ich.«
Anne fühlte sich sogleich wieder unwohler. Solange sie hier noch wohnte, hätte sie lieber von jedem gehört, es sei völliger Unsinn, sich Sorgen zu machen. Dass die Wahrscheinlichkeit, nach der hier ein Krimineller sein Unwesen trieb, der es auf schutzlose Frauen abgesehen hatte, eins zu einer Millionen stand, und dass Hysterie fehl am Platz war. Sie fand es unangenehm, dass jeder ihre Furcht zu verstehen schien. Auch die Freundin, die sie wegen des Maklers angerufen hatte, war sofort mit diesem Argument gekommen. »Ich finde es sehr beruhigend, Anne, dass du nun bald nicht mehr wie auf einem Präsentierteller allein im Wald sitzt und ein gefundenes Fressen für jeden Raubmörder darstellst!«
Danke, hätte Anne am liebsten gesagt, bis ich etwas anderes gefunden habe, werden deine Worte sicher jede Nacht für einen ausgesprochen friedlichen und entspannten Schlaf bei mir sorgen.
»Das hier ist etwas für eine große Familie«, meinte Luke Palm, »oder für Leute, die viele Tiere haben. Eine alternative Lebensform suchen oder etwas Ähnliches. Für einen Aussteiger ist es ein Traum!«
Er hatte sich bei seinem Rundgang eine Menge Notizen und einige Fotos gemacht und sagte, er werde ein Exposé anfertigen. »Sowie sich Interessenten melden, sage ich Ihnen Bescheid. Es wird natürlich ein paar Besichtigungen geben …«
»Kein Problem«, sagte Anne, »ich bin meistens zu Hause. Rufen Sie mich einfach vorher an.«
Sie verabschiedeten sich voneinander, der Makler höchst zufrieden und zuversichtlich. Er hatte befürchtet, eine verwahrloste Absteige mitten im Wald vorzufinden, und hielt nun ein Juwel in den Händen. Als er vor die Haustür trat, wirbelten Schneeflocken durch die Dunkelheit. Der Abend war hereingebrochen. In den Wipfeln der Bäume seufzte der Wind.
»Sie sind eine mutige Frau«, sagte er zum Abschied. »Verschließen Sie bloß gut alle Türen.«
»Mach ich. Aber Unkraut vergeht nicht.« Sie sah ihm nach, wie er zwischen den Büschen, die den Gartenweg einfassten, verschwand. Sie hatte sich munterer gegeben, als ihr zumute war. In der vergangenen Nacht hatte sie weder Lichter gesehen noch Motorengeräusche gehört, aber seltsamerweise ließ sie dieser Umstand keineswegs leichter atmen. Fast fühlte sie sich noch unruhiger. Weder glaubte sie, dass sie sich alles nur eingebildet hatte, noch ging sie davon aus, dass sich die Dinge von selbst erledigen würden. Eher schien es ihr, als warte etwas da draußen. Sie konnte dieses Etwas nicht im mindesten definieren, und sie hatte keine Ahnung, welchem Ziel das Warten diente. Aber sie spürte sich im Fokus einer Gefahr, und dieses Bewusstsein ließ sie die ganze vertraute Umgebung verändert wahrnehmen: Es war, als seien die Bäume näher gerückt. Als habe das Ächzen der kahlen Zweige im Wind einen bedrohlichen Klang angenommen. Als knarrten Fußböden im Haus, die sie vorher gar nicht gehört hatte. Als habe sich die Welt, die voller Menschen war, noch weiter von ihr entfernt.
Sie verriegelte die Haustür sorgfältig und ging in die Küche zurück, die hell erleuchtet war. Auf dem Tisch standen Kerzen, um die Fenster hatte sie Lichterketten befestigt. Von draußen musste ihr Haus mit den hellen Lampen und dem Weihnachtsschmuck sehr warm und anheimelnd erscheinen, aber wer sollte das eigentlich sehen?
Sie drängte den Gedanken beiseite. Genau darüber wollte sie eigentlich nicht nachdenken: darüber, wer das sehen konnte.
Sie setzte Wasser auf, um sich einen Tee zu machen, und wandte sich dann den Broschüren zu, die ihr Luke Palm dagelassen hatte. Wohnungsangebote in London. Sie war aufgeregt.
»Ich habe da ein paar richtig tolle Sachen für Sie«, hatte er gesagt. »Helle, geräumige Wohnungen. Mit schönen, sonnigen Balkons. Schauen Sie sich die Exposés in Ruhe an. Wir können uns schon nächste Woche zum Besichtigen treffen.«
Mein erster wirklich selbstständiger Schritt, dachte sie nun und blickte versonnen auf die Hochglanzpapiere, die vor ihr lagen. Sie war sechsundzwanzig Jahre alt gewesen, als sie Sean geheiratet hatte. Von da an hatten sie jedes Vorhaben gemeinsam beschlossen. Sie kannte ihr Leben nicht anders als in der Notwendigkeit,
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