Beraubt: Roman
letzten Wochen ihres Lebens war Mary von Traumbildern ihrer verlorenen Kinder Quinn und Sarah gequält und – das muss gesagt werden – auch getröstet worden. Sie behauptete, die beiden hätten ihr Lavendelsträuße mitgebracht und an ihrem Bett gesessen, um ihr die glühende Stirn zu kühlen. Alles sei verziehen. Allen gehe es gut. Sobald der Totenschein ausgestellt war, wurde sie, den Vorschriften jener schrecklichen Zeit entsprechend, aus dem Haus gebracht und unverzüglich beerdigt.
Danach war Nathaniel Walker tagelang allein über den staubigen Hof geschlichen, hatte in die Ferne gestarrt, seine Pfeife geraucht und Gebete und Flüche vor sich hin gemurmelt. Um ihn herum hatten sich die Essensrationen und Blumensträuße der Nachbarn gestapelt, bis die durchhängende Veranda dem Schauplatz eines traurigen Festmahls glich.
Ein paar Monate später verkaufte er seinen Besitz und zog nach Queensland zu William und dessen Frau Jane. Fortan lebte er zurückgezogen und verlor jegliches Interesse an der Welt und ihren Möglichkeiten. Sein Haar färbte sich silbergrau. 1924 fiel er nach einem Sturz vom Pferd ins Koma und starb zwei Wochen später, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.
Von Sadie Fox hörte man nichts Eindeutiges mehr. Gerüchten zufolge war sie in Newcastle gesehen worden; sie sei mit ihrem Bruder unterwegs, der völlig verändert aus dem Krieg zurückgekehrt sei; sie trage eine Halskette aus Schneckenhäusern, habe ein Kaninchen zur Welt gebracht, sei als blinder Passagier auf einem Frachtschiff nach Irland gefahren; sie sei während der Epidemie gestorben.
Robert Daltons brutaler Tod schockierte das kleine Städtchen. Außer seiner Dienstwaffe und seinem Pferd wurde nichts gestohlen, und abgesehen von zwei blutigen Fußspuren, die von der Wache die Gully Road entlangführten und dann verblassten, gab es keinen Hinweis auf seine Mörder. Der kleine George Carver wurde an jenem Tag zum Haus des Fährtensuchers Jim Gracie geschickt, doch der arme Junge fand ein Bild vor, das ihn noch lange in seinen Träumen verfolgte. Gracies hungrige Hunde hatten die Gelegenheit ergriffen, sich an dem Mann zu rächen, der sie jahrelang so schlecht behandelt hatte, waren hoch in die Luft gesprungen und hatten die Zähne in die nackten Füße des Fährtensuchers geschlagen. Der Junge flüchtete und erzählte seine Geschichte, doch als jemand anders zu Gracies Haus kam, waren die Hunde schon verschwunden, und der Fährtensucher hing da wie ein Gehenkter am Galgen, seine Füße zwei blutige Fleischbrocken.
Der Verdacht, die beiden Morde begangen zu haben, fiel auf den Landstreicher Fletcher Wakefield, mit dem Kimberley Porteous an jenem Tag auf dem Friedhof gesprochen hatte, doch eine Überprüfung der Akten ergab, dass Wakefield in den letzten Kriegstagen ums Leben gekommen war. Das Ganze war ein weiteres Rätsel, noch vergrößert durch Edward Fitchs Geschichte, er sei oben in den Hügeln Quinn Walkers Geist begegnet, woraufhin der scharfe Blick der Anklage wieder auf den Mann gelenkt wurde, der in Flint schon so lange »der Mörder« hieß. Natürlich, sagten die Leute. Natürlich .
Inzwischen hatte die Epidemie das Land fest im Griff. Die Krankenhäuser waren randvoll mit hustenden Patienten. Die Schulen schlossen. An jedem einzelnen Tag starben Unmengen von Menschen. Mary Walker gehörte zu einem Dutzend Bewohnern von Flint, die von der Grippe dahingerafft wurden. Als die Epidemie Ende 1919 abflaute, hatte sie Tausende von Toten gefordert.
Da alle, die mit der Familie Walker in Verbindung gestanden hatten, tot oder verschwunden waren, wucherten die Geschichten über sie wie ungeschnittene Bougainvilleen in alle möglichen Richtungen. Das galt auch für Edward Fitchs Schilderung seiner Begegnung mit dem Mörder, in der Quinn – bucklig, sein Gesicht ein eingesunkener Pudding, absonderlich wie ein Prophet oder ergrauter Heiliger, der jetzt einen Sack Knochen trug – rätselhafte Sätze von sich gab, die seine Vergangenheit erklärten und die Zukunft voraussagten. Fitch war als unzuverlässig bekannt, doch der Argwohn, der seine Begegnung mit dem Kriegsversehrten in den Hügeln umgab, verlieh seiner Geschichte in den Augen mancher Leute einen Hauch von Wahrheit. In den folgenden Jahren kam es manchmal vor, dass ein Bergarbeiter oder ein Kaninchenjäger einen einzelnen Mann erblickte, der zwischen den verlassenen Schächten umherstapfte, und dann gerieten die alten Weiber der Stadt und die Klatschmäuler
Weitere Kostenlose Bücher