Berg der Legenden
dass er höher geklettert ist als irgendein anderer Mensch auf der Welt (8488 Meter) – mich eingeschlossen. Morshead musste ihn begleiten, da seine Erfrierungen unerträglich geworden waren. Odell hat sich wieder vollkommen erholt. Obwohl er bei unserem ersten Gipfelversuch einiges durchgemacht hat, bittet er mich, ihm eine zweite Chance zu geben, aber falls wir tatsächlich einen weiteren Versuch unternehmen, werde ich nicht riskieren, noch einmal mit ihm zu gehen. Nachdem Finch, Norton und Morshead mich nicht länger beim Gipfelaufstieg begleiten können, bleibt von den Bergsteigern also nur noch Somervell übrig, der noch auf den Beinen ist, und er hat sich eine zweite Chance redlich verdient.
Wenn das Wetter aufklart, und sei es nur für ein paar Tage, werde ich es auf jeden Fall noch einmal versuchen, ehe der Monsun uns zur Rückkehr zwingt. Die Vorstellung, auf dem zweiten Platz nach Großbritannien zurückzukehren, bekümmert mich nicht – denn ich bin überzeugt, dass ich, wenn Odell mich nicht aufgehalten hätte, viel höher als 8397 Meter gekommen wäre, vor allem mit Finch auf den Fersen – vielleicht sogar bis ganz nach oben. Jetzt, wo er flachliegt, könnte ich vielleicht sogar mit seinen garstigen Sauerstoffflaschen herumexperimentieren, aber ich würde ihm nichts davon erzählen, bevor ich nicht im Triumph zurückgekehrt bin.
Der wahre Grund allerdings, warum ich so entschlossen bin, diese lebenslange Besessenheit zu beenden, ist, dass ich kein Interesse daran habe, noch einmal an diesen trostlosen Ort zurückzukehren, und mich nur noch dafür interessiere, den Rest meines Lebens mit Dir und den Kindern zu verbringen – ich vermisse sogar schon die fünfte Klasse.
Ich hoffe, dass Du, lange bevor Du diesen Brief öffnest, in der Times gelesen haben wirst, dass Dein Gemahl auf dem höchsten Punkt der Welt stand und auf dem Heimweg ist.
Ich kann es kaum erwarten, Dich in die Arme zu schließen.
Dein Dich liebender Mann,
George
George beschriftete gerade den Umschlag, als Nyima neben ihm auftauchte, mit zwei Bechern Rinderbrühe in den Händen.
»Sie werden erfreut sein zu erfahren, Mr Mallory«, sagte er, »dass wir vermutlich drei klare Tage in Folge haben werden, aber nicht mehr. Dies wird also Ihre letzte Gelegenheit sein, denn kurz darauf wird der Monsun einsetzen.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«, fragte George und wärmte seine Finger am Becher, ehe er einen Schluck nahm.
»Ich bin wie eine Kuh in Ihrem Land«, erwiderte Nyima, »die weiß, wann sie Schutz unter einem Baum suchen muss, weil es anfängt zu regnen.«
George lachte. »Du kennst dich bemerkenswert gut mit meinem Land aus.«
»Über England wurden mehr Bücher geschrieben als über irgendein anderes Land der Erde.« Nyima zögerte kurz, ehe er sagte: »Wenn ich als Engländer geboren worden wäre, Mr Mallory, hätten Sie möglicherweise in Erwägung gezogen, mich in Ihre Bergsteigergruppe aufzunehmen.«
»Bitte weck mich um sechs auf«, sagte George und faltete seinen Brief zusammen. »Wenn du recht hast mit dem Wetter für morgen, möchte ich bis Sonnenuntergang im Lager am Nordsattel sein, damit wir am nächsten Tag endgültig den Gipfelaufstieg schaffen.«
»Möchten Sie, dass ich Ihren Brief hinunter ins Basislager bringe, damit er sofort aufgegeben wird?«
»Nein, danke«, sagte George. »Das kann jemand anders übernehmen. Ich habe eine bedeutendere Aufgabe für dich, als den Postboten zu spielen.«
***
Als Nyima ihn am nächsten Morgen weckte, war George in Hochstimmung. Dies war der Tag des Aufstiegs. Ein Tag, an dem Geschichte geschrieben werden würde. Er nahm ein herzhaftes Frühstück zu sich, wohl wissend, dass er an den nächsten Tagen nur an Kendal Mint Cakes würde knabbern können.
Als er aus seinem Zelt trat, stellte er erfreut fest, dass Somervell und Odell bereits auf ihn warteten, zusammen mit neun Sherpas, einschließlich Nyima, die alle ähnlich entschlossen wirkten, sich auf den Weg zu machen.
»Guten Morgen, Gentlemen«, sagte George. »Ich denke, es wird Zeit, unsere Visitenkarte auf dem höchsten Punkt der Erde zu hinterlegen.« Ohne ein weiteres Wort machte er sich an den Aufstieg.
Es herrschte perfektes Bergsteigewetter: ein heller, klarer Tag, kein Lufthauch, nur ein Teppich aus Schnee, der über Nacht gefallen war und ihn an die Schweizer Alpen erinnerte. Falls sich Nyimas Vorhersage bewahrheiten würde, bestünde Georges einziges Problem darin, die Seilschaft für
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