Berg der Legenden
anderen Tag wiederkommen musste. George hatte keinen anderen Tag.
Er hatte sich gerade für die Route entschieden, die nach der besten aussah, als er glaubte, erneut dieses ungewohnte Geräusch zu vernehmen. Er blickte ins Tal hinunter, durch das er sich dem Berg genähert hatte. Die eine Hälfte lag im morgendlichen Sonnenlicht, während der Schatten des Berges die andere Hälfte aussehen ließ, als sei es noch nicht aufgewacht, doch er konnte immer noch nichts Merkwürdiges erkennen.
Er überprüfte ein zweites Mal die von ihm ausgewählte Route und begann, das steinige, unebene Terrain in Angriff zu nehmen. Während der nächsten Stunde kam er gut voran, obwohl er mehrmals die Richtung wechseln musste, sobald ihm ein Hindernis den Weg versperrte.
Endlich sah er den Gipfel vor sich und schätzte, dass er ihn binnen einer Stunde erreichen könnte. In diesem Moment beging er seinen ersten Fehler. Er war auf einen Felsen gestoßen, der ihm den Weg versperrte und ohne die Unterstützung eines Seilpartners anscheinend auch nicht zu überwinden war. Aus bitterer Erfahrung wusste George, dass Bergsteigen oft in Enttäuschungen mündete. Ihm blieb keine andere Wahl, als entweder umzukehren oder sich eine andere Route zu suchen. Wenn er vor Sonnenuntergang im Lager zurück sein wollte, würde der Moment kommen, in dem er nicht länger riskieren konnte der Sonne nachzujagen, die hinter einem unbekannten Horizont untergehen würde.
Und dann hörte er das Geräusch erneut, näher dieses Mal. Er drehte sich um und sah Nyima auf sich zukommen. George lächelte und fühlte sich geschmeichelt, weil der Sherpaführer ihm gefolgt war.
»Wir müssen umkehren«, sagte George, »und eine andere Route suchen.«
»Das wird nicht nötig sein«, sagte Nyima, der einfach auf den Felsen sprang und ihn mühelos zu erklimmen begann. Seine Arme und Beine bildeten eine Einheit, als er sich über die unebene Oberfläche bewegte. George stellte fest, dass der Sherpa die Route offensichtlich kannte, und fragte sich, ob der Mann den Everest schon einmal gesehen hatte.
George folgte der Route, die der Sherpa genommen hatte, und griff nach einem Felsvorsprung, der ihm zuvor nicht aufgefallen war. Durch dieses einfache Manöver hatte er eine Stunde gespart, vielleicht zwei, während zur gleichen Zeit Nyima die Führung übernommen hatte. Es dauerte nicht lange, bis er den Sherpa eingeholt hatte, und auf ihrem Weg den Berg hinauf wurde George klar, dass Nyima mit dem Gelände vertraut war, da er ein Tempo vorlegte, bei dem George kaum mithalten konnte.
Als sie den Gipfel erreicht hatten, setzten sie sich und blickten nach Norden, doch alles war in eine dichte Wolkendecke gehüllt. Widerstrebend akzeptierte George, dass er Chomolungma heute noch nicht vorgestellt werden würde. Er holte einen Riegel Kendal Mint Cake aus seinem Tornister, brach ihn in zwei Hälften und reichte Nyima ein Stück. Der oberste Sherpa nahm keinen Bissen, bis er gesehen hatte, dass George eine Weile auf seiner Hälfte herumkaute.
Während sie dasaßen und die unbeweglichen Wolken anstarrten, kam George zu dem Schluss, dass der Sherpa Nyima der ideale Seilpartner war – erfahren, einfallsreich, mutig und still. Er sah auf die Uhr und stellte fest, dass sie bald würden aufbrechen müssen, wenn sie vor Sonnenuntergang im Lager sein wollten. Er stand auf, tippte auf die Uhr und deutete hinunter ins Tal.
Nyima schüttelte den Kopf. »Ein paar Minuten noch, Mr Mallory.«
Da der Sherpa bereits bei der Route recht gehabt hatte, beschloss George, sich wieder hinzusetzen und noch ein paar Minuten zu warten. Irgendwann jedoch kommt immer der Zeitpunkt, in dem ein Bergsteiger entscheiden muss, ob die Belohnung das Risiko wert ist. Georges Ansicht nach war dieser Moment vergangen.
Er erhob sich erneut und begann, ohne auf Nyima zu warten, mit dem Abstieg. Er hatte etwa 50 Meter zurückgelegt, als ein frischer Wind aufkam. Er drehte sich um und sah, wie die Wolken langsam davondrifteten. Hastig machte er kehrt und setzte sich wieder zum schweigenden Sherpa auf den Gipfel. Chomolungma hatte sich bereits, wie Salome, vierer ihrer sieben Schleier entledigt.
Als der Wind stärker wurde, zog Chomolungma einen weiteren Schleier fort, und zum Vorschein kam eine kleine Bergreihe im Vordergrund, die George an die französischen Alpen erinnerte. Noch ein Schleier folgte. George glaubte nicht, dass solch eine Schönheit noch übertroffen werden konnte, doch dann riss eine Windbö den
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