Berg der Legenden
letzten Schleier fort und bewies, dass er sich geirrt hatte.
George fehlten die Worte. Er starrte empor zum höchsten Berg der Welt. Der leuchtende Gipfel des Everest beherrschte den Horizont und ließ die anderen Bergspitzen des mächtigen Himalaja wie einen Kinderspielplatz wirken.
Zum ersten Mal konnte George seine Nemesis eingehend betrachten. Unter seinen gefurchten Brauen ragte eine spitze tibetische Nase hervor, gebildet aus rauen Graten und unnahbaren Steilhängen, unter denen weite Nasenlöcher einen Wind ausstießen, der so grimmig blies, dass er einen selbst zu ebener Erde daran hindern würde, auch nur einen einzigen Schritt voranzukommen. Doch noch schlimmer, wesentlich schlimmer war, dass diese Gottheit zwei Gesichter besaß.
In ihrem westlichen Gesicht bestand der Wangenknochen aus einer Felsnadel, die sich hoch in den Himmel streckte, viel höher, als Georges Vorstellungskraft es sich je hätte ausmalen können, während das östliche Gesicht eine meilenlange Eisdecke zeigte, die niemals taute, nicht einmal am längsten Tag des Jahres. Ihr edles Haupt ruhte auf einem schlanken Hals, getragen von Schultern aus Granit. Von ihrem mächtigen Torso hingen zwei lange, gelenkige Arme herab, mit gewaltigen flachen Händen, die den Betrachter einen Moment lang hoffen ließen, bis der Blick auf die zehn schlanken Finger fiel, Eisfinger, auf deren einem Nagel sie ihr Basislager aufzuschlagen hofften.
George drehte sich zu Nyima um und stellte fest, dass der Mann Chomolungma mit derselben Furcht und Bewunderung, demselben Respekt anstarrte, den er selbst empfand. George bezweifelte, dass einer von ihnen allein in der Lage wäre, auch nur die Schultern dieser Riesin zu erklimmen, ganz zu schweigen von ihrem eisigen Granitantlitz – aber vielleicht gemeinsam …
41
Nach ihrem mitternächtlichen Disput in Bombay war George erleichtert, als der General ihn einlud, sich der diplomatischen Abordnung anzuschließen, die am Grenzposten ihre Empfehlungsschreiben vorzulegen gedachte.
Dreizehn Expeditionsmitglieder, fünfunddreißig Träger und achtundvierzig Mulis hatten für die Nacht auf einem flachen Stück Land neben einem rasch dahinfließenden Fluss an der indisch-tibetischen Grenze ihr Lager aufgeschlagen. George verbrachte mit dem Rest der Gesellschaft einen fröhlichen Abend und genoss während des Essens den ausgezeichneten Wein und die Zigarren des Generals.
Um Viertel vor sechs am folgenden Morgen stand der General in Galauniform draußen vor Georges Zelt, in der Hand einen schwarzledernen Diplomatenkoffer. Sherpa Nyima stand in seinem traditionellen, wollenen Bakhu einen Schritt hinter ihm und trug einen Karton mit dem Schriftzug LOCK’s of London . Kurz darauf kroch George in dem Anzug aus dem Zelt, den er bereits beim Empfang des Generalgouverneurs getragen hatte. Dazu hatte er seine alte Schulkrawatte angelegt. Er begleitete Bruce aus dem Lager hinaus zum Grenzposten.
»Nun, ich erwarte keinerlei Probleme, Mallory«, sagte der General, »aber sollte sich irgendein Missverständnis ergeben, überlassen Sie alles mir. Ich hatte bereits in der Vergangenheit mit diesen Eingeborenen zu tun und kann sie einschätzen.«
George akzeptierte, dass der General viele großartige Stärken hatte, aber jetzt fürchtete er, Zeuge einer seiner Schwächen zu werden.
Als sie den Grenzposten erreichten, staunte George nicht schlecht. Die kleine Bambushütte lag gut getarnt im dichten Unterholz und erweckte ganz und gar nicht den Eindruck, dass Fremde hier willkommen seien. Ein paar Schritte weiter entdeckte George einen Soldaten, dann noch einen. Ihre uralten Gewehre zielten in ihre Richtung. Dieses Anzeichen von Feinseligkeit bewog den General nicht dazu, seine Schritte zu verlangsamen – wenn überhaupt, wurde er höchstens noch schneller. George wäre es eindeutig lieber, oben auf einem Berg zu sterben als an seinem Fuß. Ein paar Schritte weiter, und George konnte genau erkennen, wo die tibetische Grenze verlief. An der einzigen Öffnung in der Bambusabsperrung, die quer über den schmalen Weg verlief, hockten zwei weitere Soldaten in einem mit Sandsäcken gesicherten Unterstand, deren Gewehrläufe ebenfalls auf die näher rückende britische Armee gerichtet waren. Immer noch unerschrocken marschierte der General geradewegs auf die hölzerne Treppe der Hütte zu und durch die offene Tür hinein, als stünde der Grenzposten unter seinem Kommando. George folgte ihm vorsichtig, Nyima hielt sich einen Schritt
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