Berg der Legenden
in der Woche, einen jungen Inder eingestellt, der haargenau 6 Fuß groß ist. Lass mich versuchen, seine Aufgabe zu beschreiben, obwohl Du es selbst im Film wirst sehen können, sobald wir wieder zurück sind. Er legt sich flach auf den Boden, während ein anderer Sherpa an seiner Kopfspitze eine Markierung auf der Erde anbringt, um die Entfernung festzuhalten. Dann steht der 6-Fuß-Mann auf, setzt seine Zehenspitzen – der nackten Füße – auf die Markierung und wiederholt dieselbe Übung immer wieder, Stunde um Stunde. Auf diese Weise kann Morshead die exakte Strecke messen, die wir jeden Tag zurücklegen – rund 20 Meilen. Ich habe ausgerechnet, dass der junge Mann sich jeden Tag rund achtzehntausendmal hinlegen und wieder aufstehen muss. Gott weiß, dass er die zwanzig Rupien verdient hat.
Mein Liebling, es wird Zeit, mit dem Schreiben aufzuhören und meine Kerze auszublasen. Ich teile mein kleines Zelt mit Guy. Es ist wunderbar, einen alten Freund auf dieser Reise dabei zu haben, aber es ist nicht dasselbe, wie mit Dir zusammen zu sein …
»Wo ist er jetzt?«, wollte Clare wissen und sah hinunter auf die Karte.
Ruth faltete den Brief zusammen, eher sie sich wieder zu Clare und Beridge auf den Boden setzte. Sie studierte die Karte einen Moment, ehe sie auf ein Dorf namens Chumbi zeigte. Da Georges Brief sechs oder sieben Wochen gebraucht hat, um The Holt zu erreichen, konnte sie nie ganz sicher sein, wo er sich tatsächlich gerade aufhielt. Sie öffnete seinen letzten Brief.
Heute haben wir unsere üblichen zwanzig Meilen geschafft und ein weiteres Muli verloren, so dass wir jetzt nur noch einundsechzig haben. Ich frage mich, welche strategische Entscheidung der General fällen würde, falls uns die Mulis knapp würden und er wählen müsste, ob er seinen Wein oder seine Badewanne stehen lässt.
Jeden Morgen um sechs Uhr lässt er die Träger antreten und zum Zählappell strammstehen. Heute morgen waren nur noch siebenunddreißig da, es ist also schon wieder einer fortgelaufen. Der General nennt sie Deserteure.
Gestern sind wir auf unserem Marsch an einem buddhistischen Kloster hoch in den Bergen vorbeigekommen. Wir blieben stehen, damit Noel es filmen konnte, doch der General riet uns, die Mönche nicht in ihrer Andacht zu stören. Dieser Mann ist eine merkwürdige Kombination aus Weisheit und Schwulstigkeit.
Nyima hat mir erzählt, dass wir, sobald wir uns den Jelep La hinaufgequält haben, unser Lager heute Abend in rund 4200 Meter Höhe aufschlagen werden, unterhalb eines Berggipfels, von wo aus ich, falls ich ihn erklimmen würde, einen klaren Blick auf den Everest hätte. Morgen ist Sonntag, und der General hat den Tag zum Ruhetag erklärt, um den Trägern und den Mulis die Gelegenheit zu geben, wieder zu Kräften zu kommen, während einige von uns ihre Lektüre aufholen oder nach Hause an die Lieben schreiben können. Ich erfreue mich im Moment an T. S. Eliots Das öde Land , doch ich muss zugeben, dass ich plane, morgen diesen Berg zu besteigen, solange nur die leiseste Chance besteht, den Mount Everest zum ersten Mal zu sehen. Ich müsste früh aufstehen, denn Nyima schätzt den Gipfel auf gut 6400 Meter. Ich habe den Anführer der Sherpas nicht darauf hingewiesen, dass ich nie zuvor in diese Höhe gestiegen bin.
»Was passiert, wenn Daddy die Grenze nicht überqueren darf?«, fragte Clare und piekste mit dem Finger auf die dünne, rote Linie, die Indien von Tibet trennte.
»Dann muss er umkehren und wieder nach Hause kommen«, sagte ihre Mutter.
»Fein«, sagte Clare.
40
Noch vor Sonnenaufgang stahl George sich aus dem Lager, einen Tornister auf dem Rücken, Kompass in der einen, Eispickel in der anderen Hand. Er kam sich vor wie ein Schuljunge, der heimlich hinter dem Fahrradschuppen rauchte.
Durch den frühen Morgennebel konnte er eben so den namenlosen Berg erkennen, der hoch über ihm aufragte. Er überlegte gerade, dass er mindestens zwei Stunden brauchen würde, ehe er hoffen konnte, seinen Fuß zu erreichen, als er ein ungewohntes Geräusch hörte. Er blieb stehen und sah sich um, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches entdecken.
Als er die unteren Ausläufer des Berges erreichte, hatte er bereits mehrere mögliche Routen zum Gipfel in Erwägung gezogen. Der erste Nervenkitzel für jeden Bergsteiger, der eine Besteigung plant, ist die Entscheidung, welche Route er nehmen soll. Die falsche Wahl kann in einer Katastrophe enden – oder zumindest damit, dass man an einem
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