Bericht vom Leben nach dem Tode
er immer noch nicht, was er anfangen sollte. Als Assistent des in Cambridge lehrenden Schweizer Zoologen Louis Agassiz nahm er an einer Expedition in das Amazonasgebiet teil, anschließend ging er nach Deutschland, um Vorlesungen des berühmten Physikers Helmholtz zu hören. In diesen ganzen Jahren und von Kindheit an war James häufig krank gewesen. Er litt unter Depressionen und hatte mehrmals Selbstmordabsichten. Vielleicht war es diese frühe Erfahrung, die sein großes Verständnis für unerforschte und paranormale Vorgänge in Gehirn und Seele weckte. Schlagartig endete diese Periode der Unausgeglichenheit, als er im Alter von achtundzwanzig Jahren das Werk des französischen Philosophen Charles Renouvier für sich entdeckte, dessen Lehre auf Kants »praktischen Postulaten« Freiheit, Gott und Unsterblichkeit beruhte. Das entscheidende Kennzeichen des menschlichen Charakters ist nicht sein Automatismus, hatte Renouvier erkannt, sondern sein unstillbarer Drang nach immer größerer Gedanken- und Handlungsfreiheit durch den Gebrauch jener Fähigkeit, die von allen Kreaturen nur er besitzt: des freien Willens. Für den jungen William James war das wie eine Offenbarung. »Mein erster Akt des freien Willens«, so schrieb er, »wird es sein, an den freien Willen zu glauben.« Dieser Entschluß befreite seine aufgestaute schöpferische Kraft, und mit einer ungewöhnlichen Energie startete er seine weit ausgreifenden Forschungen, die ihm bleibenden Ruhm einbringen sollten.
1872 wurde William James Instruktor für Anatomie und Physiologie an der Harvard-Universität und vier Jahre später Professor für Psychologie und Philosophie. Auf diesem Lehrstuhl wirkte er einunddreißig Jahre lang als Verfechter eines antimaterialistischen »radikalen Empirismus« und Begründer des Pragmatismus, der vorherrschenden Schule der modernen amerikanischen Philosophie. Sein zweibändiges Hauptwerk, Prinzipien der Psychologie , das 1890 erschien, wurde von Natur- und Geisteswissenschaftlern der ganzen Welt sogleich als der Meilenstein für einen epochalen Neubeginn erkannt. Es löste die etablierten Schriften über »Seelenkunde« ab und führte den funktionalen Gesichtspunkt in die Psychologie ein. Eine Periode raschen Fortschritts im Verständnis der Diesseits-Aktivitäten des menschlichen Geistes war die Folge. James ging davon aus, daß die Wirklichkeit unfixierbar, vielgestaltig und fließend – mit einem Wort: »pluralistisch« – sei, so daß das Individuum seine Erfahrungen nur selbst machen und nie im voraus wissen könne, wohin sie ihn führen. Auch das die Wirklichkeit empfindende Bewußtsein dachte er nicht als statische Funktion des Gehirnapparats, sondern als fließenden Strom.
Nie hat James die Tatsache abgestritten, daß ein großer Teil der menschlichen Aktivität aus einfachen Automatismen besteht. Gleichzeitig ist sein Funktionalismus jedoch auch das Fundament seiner Überzeugung, daß das menschliche Bewußtsein viel mehr ist als ein Netzwerk von Stimulus-Reaktions-Zyklen. Seine direkte Beobachtung geistigen und körperlichen Verhaltens überzeugte ihn, daß ein gründliches Verstehen der »Maschine Mensch« eine Voraussetzung für das Verständnis des »Phänomens Mensch« in seiner Gesamtheit sei. Seine Studien über geistigen Funktionalismus erledigten viele falsche Vorstellungen über Gott und Unsterblichkeit und führten ihn zu der Entdeckung höherer Funktionen im Menschen, die von keiner der erdgebundenen mechanistischen Theorien erklärt werden können. Von den vier Begründern der modernen Psychologie bekannten nur James und Freud, daß sie sich der gewaltigen, widerhallenden Nebentöne unserer Wahrnehmungen bewußt waren. Freud ist sich dieser »Begleitmusik« zu spät in seinem Leben bewußt geworden, als daß sie noch irgendeinen Einfluß auf die bereits florierende Schule seiner Psychoanalyse hätte haben können, die seinen Namen trägt. James dagegen entdeckte die signifikanten Variationsmöglichkeiten der Bewußtseinslage schon zu einem frühen Zeitpunkt seiner Laufbahn. Er schrieb eingehend über die Phänomene, die sich unabhängig von den Leitseilen mechanistischer Psychologie abspielen, und schuf die Basis für eine sorgfältige Untersuchung dieser Vorgänge. Aus diesem Grunde müssen wir, wenn wir beabsichtigen, die ganze Erlebniswirklichkeit und Erfahrungsmöglichkeit des Menschen endlich in das Blickfeld wissenschaftlicher Forschung zu bringen, zu dem von William James gelegten Fundament
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