Berlin 1933-1945: Stadt und Gesellschaft im Nationalsozialismus (German Edition)
wissen heute, dass nur eine kleine Minderheit der Deutschen sich in der NS-Zeit für die Gegnerschaft entschied. Die meisten bejahten das System, folgten bereitwillig der nationalsozialistischen Führung oder passten sich zumindest in die NS-»Volksgemeinschaft« ein. Nur wenige stellten sich dem System entgegen. Diejenigen, die ihre Gegnerschaft zum Regime in den Widerstand münden ließen, mussten besondere Vorsicht walten lassen. Sie hatten sich, wie die neuere Denunziationsforschung zeigt, vor der Polizei zu fürchten, aber mehr noch vor ihren Nachbarn, die nur zu bereitwillig regimekritische
Handlungen registrierten und meldeten. Die Bereitschaft zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus beruhte immer auf einer individuellen, ganz persönlichen Entscheidung, zumeist sogar auf einer Reihe von einzelnen Entschlüssen. Sollte gemeinsam mit anderen etwas gegen die Diktatur unternommen werden, so erforderte dies Vertrauen in andere, Gruppenbildung, »Vernetzung«. Dies war unter den Bedingungen der Diktatur kein einfacher Vorgang, sondern ein oftmals sehr komplexer Prozess, in dessen Verlauf sich erst allmählich das Vertrauen der Beteiligten zueinander entwickeln musste. Vielfach gingen dabei persönliche Gespräche und politische Diskussionen ineinander über. Das gemeinsame Milieu, die gemeinsame Alterskohorte, gemeinsame Interessen, all diese Faktoren konnten Menschen zusammenführen. Die konspirative Gruppenbildung erfolgte jedoch nicht nach heutigen organisationsstrukturellen Überlegungen, sondern muss als ein loser, sich vielfach wandelnder Prozess begriffen werden.
Die Gruppenbildung im Widerstand ging vielfach einher mit der Suche nach politischer und weltanschaulicher Übereinstimmung. Dabei wurde oft der eigene Standort – in Abgrenzung vom nationalsozialistischen System – bestimmt, bevor konkrete Aktionen erfolgten. Der Diktatur wurde in diesen Diskussionen vor allem auch ihr Informationsmonopol bestritten. Es ging darum, Informationen auszutauschen, sie mit der Propaganda der Diktatur zu vergleichen und sich so ein eigenes Bild von den politischen Prozessen der Gegenwart zu machen. Widerstand gegen den Nationalsozialismus hat viel mit Informationssammlung und Informationsweitergabe zu tun, auch mit massenhafter Informationsweitergabe durch Flugblätter oder Flugschriften, also mit der Herstellung einer – wenn auch kleinen – Gegenöffentlichkeit. Der Einzelne oder die Gruppe, die etwas gegen die nationalsozialistische Herrschaft unternehmen wollten, standen immer vor dem Problem, dass die Mehrheitsgesellschaft die Herrschaft unterstützte und die Diktatur zudem über einen ausgereiften – wenn auch nicht allwissenden – Polizeiapparat verfügte. Diese Rahmenbedingungen galten überall im Deutschen Reich, auch in der Hauptstadt Berlin.
Resümee
Was lässt sich über den Widerstand in Berlin festhalten? In der Reichshauptstadt erlangte der Nationalsozialismus in demokratischen Wahlen niemals die Mehrheit; die Stimmung in der Stadt blieb durchaus kritisch, ohne dass daraus eine »Volksopposition« entstand. Der Widerstand aus der Arbeiterbewegung war hier sowohl auf der zentralen als auch auf der lokalen Ebene aktiv. Ferner versuchten hier vor allem jüngere Offiziere den Umsturzversuch gegen Hitler vorzubereiten. Doch wenn es eine Form des Widerstands gab, die es gerechtfertigt erscheinen lässt, von einer »Hauptstadt des Widerstands« zu sprechen, dann waren es die vielfältigen Hilfen für die verfolgten Juden. Nirgendwo in Deutschland gab es eine größere Bereitschaft, die Möglichkeiten der Großstadt zur Rettung der von der Deportation in die Todeslager bedrohten Juden zu nutzen – aus den unterschiedlichsten Motiven. Ähnliches gilt – darauf weisen die ersten Forschungsergebnisse hin – auch für die Hilfen für verfolgte Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter. Hier muss das Widerstandspotential Berlins noch genauer als bisher ausgelotet werden. Letztlich war es in Berlin wie überall im Reich aber nur eine Minderheit der Deutschen, die sich aktiv gegen den Nationalsozialismus wandte. Doch auch das zeigt, welche Handlungsspielräume und Widerstandsmöglichkeiten sich dem Einzelnen selbst unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur noch boten und dass es Alternativen zu Hitler gegeben hätte.
PROF. DR. JOHANNES TUCHEL
(geb. 1957), Leiter der Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand, apl. Prof. am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien
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