Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
Zweitausendermarke übertroffen.
Kirchenmitarbeiter, Mitglieder von Hilfsorganisationen und andere freiwillige Helfer, darunter viele Frauen der alliierten Soldaten, waren gekommen, um den hungrigen Flüchtlingen Essen auszugeben und weinende Babys zu trösten. Da die Aufnahmekapazität des Lagers längst überschritten war, hatte man die Flüchtlinge über die Stadt verteilt. Sie schliefen in Kirchenschiffen und
Klassenzimmern auf Feldbetten der Armee und Krankenhäuser. Heinrich Albertz, der Chef der Senatskanzlei des Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt, rief George Muller an, den stellvertretenden politischen Berater an der US-Botschaft, und bat um eiserne Rationen, weil in Marienfelde die Vorräte ausgegangen waren. So könne es einfach nicht weitergehen, sagte er.
Muller zweigte mehrere Tausend C-Rationen von den amerikanischen Garnisonen ab. Das würde zwar nur für ein paar Tage reichen, aber Albertz nahm, was er bekommen konnte.
Seit 1953 hatte Westberlin einen so starken Flüchtlingsstrom nicht mehr erlebt. Die fünfundzwanzig dreistöckigen Mietskasernen in Marienfelde waren völlig überfüllt, ebenso weitere neunundzwanzig notdürftige Lager, die man eingerichtet hatte, um die Flut aufzufangen. Täglich brachten einundzwanzig Charterflüge Tausende neuer Flüchtlinge aus Westberlin in die Bundesrepublik, wo es viele Arbeitsplätze gab.
Doch das alles reichte nicht aus, um die Menschenflut zu bewältigen. Die Sachbearbeiter hatten es praktisch aufgegeben, echte Flüchtlinge von Scheinflüchtlingen zu unterscheiden, darunter mit Sicherheit Dutzende ostdeutsche Spione, die Ulbrichts Chef der Auslandsaufklärung, Markus Wolf, in den Westen schleuste.
Als es dunkel wurde, erhellte ein Feuerwerk für das Kinderfest den Berliner Nachthimmel. Die Tanzpaare auf der Dachterrasse des neuen Berliner Hilton machten eine Pause, um das Feuerwerk zu bestaunen. Die Westberliner Filmtheater waren an diesem Wochenende ausverkauft, und über die Hälfte der Kunden waren Ostberliner. Das war auch kein Wunder, wenn man bedenkt, welche Kassenschlager sie sich für 1,25 Ost- oder Westmark anschauen konnten: Misfits – nicht gesellschaftsfähig mit Clark Gable und Marilyn Monroe im Atelier am Zoo; Ben Hur mit Charlton Heston; Der alte Mann und das Meer mit Spencer Tracy im Delphi Filmpalast; Wem die Stunde schlägt mit Gary Cooper und Ingrid Bergmann im Studio am Kurfürstendamm oder Der dritte Mann mit Orson Welles im Ufa Pavillon.
Auf der Bühne eroberte Leonard Bernsteins neues Musical West Side Story Westberlin im Sturm. Auch Ostberlin hatte Theaterattraktionen vorzuweisen. Hunderte von Westberlinern überquerten jeden Abend die Grenze, um sich die aktuelle Inszenierung von Bertolt Brecht am berühmten Berliner Ensemble oder ein politisches Kabarett in der Distel anzusehen. Manche fuhren auch nur für ein billiges Bier rüber wie zur Rialto-Bar im nordöstlichen Bezirk Pankow, die keine Sperrstunde hatte.
Sowjetische Soldaten mussten an jenem Abend in der Kaserne bleiben, um eine »Verbrüderung« zu verhindern, wie es hieß. Britische, französische und amerikanische Soldaten hingegen machten die Stadt unsicher, genossen ihre starke Anziehung auf junge Berliner Frauen, deren potenzielle deutsche Freier viel weniger Geld in der Tasche hatten, um sie zu verwöhnen. Das 1. Walisische Regiment hatte sich in einem Ballsaal im britischen Sektor versammelt. Die Franzosen tanzten im Maison du Soldat. Amerikanische GIs gingen in ihre eigenen Clubs und Lieblingskneipen — und feierten, wie so oft samstags, feuchtfröhlich bis tief in die Nacht hinein.
NÜRNBERG, BUNDESREPUBLIK
SAMSTAGABEND, 12. AUGUST 1961
Berlins Regierender Bürgermeister Willy Brandt eröffnete im fränkischen Nürnberg die Endphase seines Wahlkampfs um das Amt des Bundeskanzlers. Vor sechzigtausend Wählern, die sich auf dem Hauptmarkt der Stadt drängten, griff er seinen Rivalen Adenauer an, weil dieser es abgelehnt hatte, sich einer öffentlichen Debatte nach dem Muster des Fernsehduells zwischen Nixon und Kennedy zu stellen.
Mit rauer, emotionaler Stimme fragte Brandt die Menge rhetorisch, warum denn so viele Flüchtlinge jeden Tag nach Westberlin kämen. »Die Antwort auf diese Frage heißt«, sagte er, »weil die Sowjetunion einen Anschlag gegen unser Volk vorbereitet, über dessen Ernst sich die wenigsten klar sind. Weil die Menschen in der Zone Angst haben, dass die Maschen des Eisernen Vorhangs zuzementiert werden. Weil sie fürchten, in
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