Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
Menschheitsgeschichte, tönte der Rundfunksender und wies darauf hin, dass sie einmal mehr die Überlegenheit des Sozialismus beweise – ein eklatanter Widerspruch zu dem anhaltenden Flüchtlingsstrom.
Doch der britische Reporter unternahm einen weiteren Versuch, Sindermanns Tipp auf den Grund zu gehen, und fuhr zum Ostbahnhof, dem wichtigsten Bahnhof Ostberlins für Reisende, die aus anderen Teilen Ostdeutschlands kamen. Hier versuchte er häufig, sich einen Überblick über den Flüchtlingsstrom zu verschaffen. Ihm kam es so vor, als wären mehr Reisende als sonst unterwegs, aber noch mehr fiel ihm die verstärkte Präsenz von Polizisten in Uniform und in Zivil auf.
Die Polizei verhielt sich recht aggressiv gegenüber der Menge, fischte scheinbar willkürlich Dutzende von Reisenden heraus, verhaftete einige von ihnen und schickte die anderen zurück. Der Brite notierte sich: »eine erhöhte Polizeiaktivität«. Allerdings hatte Kellett-Long den Eindruck, dass die ostdeutschen Behörden den Kampf verlieren würden, indem sie gewissermaßen mit ausgestreckten Armen versuchten, die Flut aufzuhalten. Die Anspannung war den Beamten deutlich in den Augen anzusehen.
Kellett-Long kehrte in sein Büro zurück und schrieb einen Artikel, der in Redaktionsräumen auf der ganzen Welt die Alarmglocken klingeln ließ. »Berlin hält an diesem sonnigen Wochenende den Atem an«, schrieb er, »und erwartet drastische Maßnahmen, um den Flüchtlingsstrom nach Westberlin zu stoppen. « Aufgrund des Tipps von Sindermann schrieb er, die Behörden würden »in Kürze« reagieren. 15
Es waren harte und pessimistische Worte, genau der draufgängerische Stil, der Kellett-Long bei seinen Vorgesetzten so unbeliebt gemacht hatte. Aber er war sich seiner Sache sicher. Kellett-Long ging davon aus, dass jetzt mehrere Szenarien für die künftigen Ereignisse möglich waren. Er zählte sie seinen Lesern auf: Ostdeutsche Behörden könnten die Kontrollen der Reisenden verschärfen oder aber strengere Strafen über Menschen verhängen, die bei einem Fluchtversuch gefasst würden. Eine weit größere Sache wäre es jedoch, wenn die Ostdeutschen versuchen würden, die Transitwege ganz zu schließen.
Diese Alternative konnte sich selbst Kellett-Long nicht vorstellen. In diesem Fall würde er über einen potenziellen Krieg schreiben.
STASI-HAUPTQUARTIER, NORMANNENSTRASSE, OSTBERLIN
FREITAG,11. AUGUST 1961, SPÄTER NACHMITTAG
Bei der ersten Unterweisung seiner Offiziere vor ihrer Aufgabe am Wochenende gab Stasi-Chef Erich Mielke dem historischen Augenblick einen Decknamen: »Die gesamte Aktion erhält die Bezeichnung ›Rose‹«, sagte er. Er erklärte nicht den Grund für diesen Namen, allerdings steckte darin die Andeutung, dass hinter Zigtausenden von Stacheldrahtspitzen ein Plan von organisierter Schönheit aufblühe.
Mielke strahlte Zuversicht aus. Nur knapp über einssechzig – ungefähr gleich groß wie Ulbricht und Honecker, jedoch kräftiger gebaut, athletischer und stämmiger als die beiden –, hatte er immer einen leichten Bartschatten auf den Wangen und Ringe unter den dunklen Augen. 16
Im Jahr 1931, im Alter von vierundzwanzig Jahren, hatte Mielke seine kommunistische Schlägerkarriere mit dem Mord an zwei Berliner Polizeibeamten begonnen, die man für den geplanten Coup zu einer politischen Kundgebung vor dem Kino Babylon am Bülowplatz gelockt hatte. Nach dem Anschlag grölte Mielke unter Genossen in der kommunistischen Stammkneipe: »Heute wird ein Ding gefeiert, das ich gedreht habe!« Parteigenossen schmuggelten Mielke aus Deutschland heraus, wo er in Abwesenheit verurteilt wurde. Danach begann er seine Ausbildung in Moskau als sowjetischer politischer Nachrichtenoffizier. 17
Mielke leitete die Staatssicherheit der DDR seit 1957, doch die kommenden Stunden sollten der bislang wichtigste Test für seinen umfangreichen Apparat aus 85 000 Vollzeitspionen im Inland und 170 000 Informanten werden. Der größte Teil seiner hohen Offiziere, die in der Kantine des Hauptquartiers der ihm unterstellten Polizeitruppen versammelt waren, hatte jedoch bis zu diesem Moment überhaupt nichts von der Operation gewusst.
»Heute treten wir in einen neuen Abschnitt der tschekistischen Arbeit ein«, teilte er ihnen mit und spielte wie so oft auf die berüchtigte Tscheka an, die erste Geheimpolizei zur Unterstützung der bolschewistischen Revolution. »Dieser neue Abschnitt erfordert die Mobilisierung jedes einzelnen Mitarbeiters der
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