Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Titel: Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederick Kempe
Vom Netzwerk:
einem gigantischen Gefängnis eingeschlossen zu werden. Weil sie die brennende Sorge haben, sie könnten vergessen werden, abgeschrieben werden, geopfert werden auf dem Altar der Gleichgültigkeit und verpasster Chancen.« 21
    Ebenso prophetisch wie poetisch schoss Brandt einen weiteren Pfeil gegen seinen Widersacher Adenauer ab. »Heute stehen wir vor der ernstesten Krise unserer Nachkriegsgeschichte, und der Bundeskanzler verniedlicht diese Dinge.«
    Er verlangte, dass alle Deutschen auf beiden Seiten der Trennlinie in einer Volksabstimmung über ihre Zukunft entscheiden sollten, und war zuversichtlich, dass sie sich für einen demokratischen, westlichen Kurs entscheiden würden.
»Wenn die Zone sie verweigert, wenn sie für Ostberlin abgelehnt wird, dann müssen die Deutschen in der Bundesrepublik und in Westberlin, die die Freiheit dazu haben, sie auch ausüben. Auch wir haben ein Recht auf Selbstbestimmung«, sagte er und spielte damit auf die deutsche Niederlage im Krieg an. »Nicht weil wir besser sind als andere, sondern weil wir auch nicht schlechter sind als andere Völker.«
    Die Menge jubelte begeistert und wollte noch mehr von Brandt hören, als er sich erschöpft in den Eisenbahnwaggon des Zuges zurückzog, der ihn von einem Wahlkampfauftritt zum anderen über Nacht nach Kiel bringen sollte.
    Während Brandt in Nürnberg war, führte Adenauer in Lübeck Wahlkampf. In seiner mehrmals abschweifenden Rede forderte er die Ostdeutschen auf, ihre Flucht nach Westen zu stoppen und im eigenen Land zu bleiben. Sie sollten dazu beitragen, Ostdeutschland auf die Vereinigung vorzubereiten.
    »Aber ich glaube, es ist auch unsere Aufgabe, unseren deutschen Mitbrüdern und unseren deutschen Schwestern jenseits der Zonengrenze zu sagen: Habt keine Panikstimmung«, sagte er. »Wir haben diese schwere Trennung … Sie wird eines Tages von uns genommen werden, und eines Tages werden wir wieder ein Land sein, und das deutsche Volk wird wieder … ein Volk werden.« 22
    GROSSER DÖLLNSEE, DDR
SAMSTAG, 12. AUGUST 1961, 17 UHR
    Walter Ulbricht kam den Gästen seiner Gartenparty am Großen Döllnsee, rund 40 Kilometer außerhalb Berlins, ungewöhnlich entspannt vor. Das Gästehaus der ostdeutschen Regierung, das sogenannte »Haus zu den Birken«, hatte einst dem Befehlshaber der Luftwaffe Hermann Göring als Jagdhütte gedient. Ulbrichts Gäste wussten das ganz genau, erwähnten den Umstand aber mit keinem Wort. 23
    Ulbrichts Party hatte einen doppelten Zweck. Erstens isolierte er auf diese Weise Regierungsvertreter, die später seine Operation in einer Umgebung absegnen sollten, die er bei Bedarf hermetisch abriegeln konnte. Zweitens führte er ein Ablenkungsmanöver durch. Alle westlichen Geheimdienste, die seine Bewegungen überwachten, würden melden, dass der Staatsratsvorsitzende der DDR eine Sommerparty auf seinem Landsitz gab.

    Seine Gäste stellten untereinander Spekulationen an, weshalb man sie wohl zusammengerufen hatte. Einigen fiel eine ungewöhnlich hohe Zahl an Soldaten und Militärfahrzeugen in den Wäldern um das Gästehaus auf. Aber in Ulbrichts Hierarchie hatte es noch nie jemand weit gebracht, der zu viele Fragen stellte. 24
    Die Augustsonne stach, als die Gesellschaft sich im Schatten der Birkenbäume auf der Wiese neben dem See versammelte. Allen, die lieber im Haus bleiben wollten, zeigte Ulbricht einen Film: die beliebte sowjetische Komödie mit dem deutschen Titel Rette sich wer kann! über das Chaos, das auf einem russischen Frachter herrschte, der Löwen und Tiger an Bord hatte.
    Nur ein paar Gäste wussten, dass Ulbricht um 16 Uhr den letzten Befehl unterzeichnet hatte, der Honecker grünes Licht gab, die Operation »Rose« einzuleiten. An seiner Seite standen die entscheidenden Akteure in der Befehlskette dieses Abends: Willi Stoph, der Minister für Nationale Verteidigung, und Paul Verner, der stellvertretende Vorsitzende des Staatsrats, beide Politbüromitglieder des Zentralkomitees der SED; Verteidigungsminister Heinz Hoffmann; der Minister für Staatssicherheit Erich Mielke; Innenminister Karl Maron; Verkehrsminister Erwin Kramer; der Präsident der Volkspolizei Fritz Eikemeier; und der Leiter des Stabes im Innenministerium Horst Ende.
    Honecker hatte sich vor sie gestellt und seine höchsten Offiziere über ihre Aufgaben an dem Abend instruiert, und niemand hatte Fragen gestellt oder Einwände vorgebracht. Anschließend hatte er allen ihre schriftlichen Anweisungen ausgehändigt, nachdem er

Weitere Kostenlose Bücher