Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
Staatssicherheit. In der jetzigen Periode wird sich erweisen, ob wir alles wissen, und ob wir überall verankert sind. Jetzt müssen wir beweisen, ob wir die Politik der Partei verstehen und richtig durchzuführen in der Lage sind.« 18
Mielke hielt sich fit, trank wenig und rauchte nicht, aber er hatte drei Schwächen: eine leidenschaftliche Begeisterung für preußische Marschmusik,
die Jagd in einem speziellen Revier, das er für kommunistische Spitzenfunktionäre unterhielt, sowie der Erfolg von Dynamo Dresden, die zur Sportorganisation der Polizei- und Sicherheitsbehörden der DDR gehörte und dank kräftiger Subventionen und Interventionen regelmäßig die Meisterschaft gewann. Aber das war gar nichts im Vergleich zu dem Spiel, dessen Regeln er jetzt festlegte.
Er sagte seinen Offizieren, dass die Arbeit, die sie in Kürze erledigen würden, »die Festigkeit unserer Republik zeigen [wird]. […] Was ist die Hauptfrage: größte Wachsamkeit üben, höchste Einsatzbereitschaft herstellen und alle negativen Erscheinungen verhindern? Kein Feind darf aktiv werden, keine Zusammenballung darf zugelassen werden.«
Anschließend erteilte er die Anweisungen für das kommende Wochenende. Die Befehle reichten von der Frage, wie man einzelne Fabriken überwachen könne, bis hin zu einem genauen Überblick über die Lage »in den Kreisen und Bezirken«, insbesondere über die »feindlichen Kräfte«. Die Geheimpolizisten innerhalb der Streitkräfte sollten über einen möglichst engen Kontakt zu den Offizieren deren »Zuverlässigkeit und Kampfbereitschaft« gewährleisten. »Wer mit feindlichen Losungen auftritt, ist festzunehmen«, sagte er. »Feinde sind streng und in der jetzigen Zeit schärfer anzupacken. Feindliche Kräfte sind sofort ohne Aufsehen unter Anwendung entsprechender Methoden festzunehmen, wenn sie aktiv werden.«
Mielke hatte die Führung übernommen, nachdem sein Mentor Wilhelm Zaisser es nicht geschafft hatte, eine Ausweitung des Aufstands vom 17. Juni 1953 zu verhindern. Damals hatten sich in vielen Fällen Soldaten und Polizisten den Demonstranten angeschlossen. Regelrechte Streikwellen hatten die Fabriken im ganzen Land erfasst, und der Einsatz von sowjetischen Panzern und Soldaten war erforderlich gewesen, um die Ordnung wiederherzustellen.
Mielke wollte von vornherein solche Probleme ausschließen, indem er Unruhen einkalkulierte und jeden Dissens im Keim erstickte, ehe er größere Kreise ziehen konnte.
OST- UND WESTBERLIN
SAMSTAG, 12. AUGUST 1961
Für die meisten Berliner war alles wie an jedem Sommerwochenende.
Mit 24 Grad herrschten angenehme Temperaturen, und es waren gerade so viele Wolken am Himmel, dass sie die Sonnenstrahlen ein wenig abmilderten. Nach den Regengüssen der letzten Woche zog es die Berliner in die Straßencafés, in die Parks und an die Badestrände.
Ein Stadtviertel in der Nähe der Ost-West-Grenze hatte man für den Verkehr geschlossen, aber das lag an dem alljährlichen Kreuzberger Kinderfest auf der Zimmerstraße. Fähnchen und Wimpel schmückten die schmale Straße, wo Kinder aus allen Sektoren Berlins lachten, spielten und ihre Eltern um Eis und Kuchen anbettelten. Kinderliebe Erwachsene warfen ihnen aus ihren Fenstern über der Straße Bonbons zu. 19
Die meisten alliierten Armeeoffiziere hatten sich den Tag freigenommen und verbrachten ihn mit ihrer Familie. Einige segelten den Wannsee aufwärts, zum Teil bis in die Havel hinein. Generalmajor Albert Watson II., der US-Befehlshaber in Berlin, spielte beim Club Blau-Weiß Golf, dessen Mitgliedschaft Teil der Rechte als Besatzungsmacht war.
Das Busunternehmen Severin + Kühn machte einen Rekordumsatz mit seinen Städtetouren, die Touristen ins Epizentrum des Kalten Kriegs, Zwischenstopps im sowjetischen Sektor inbegriffen, brachten. Sie ermahnten die Passagiere, bestimmte öffentliche Gebäude nicht zu fotografieren, forderten sie aber auf, nach Belieben das sowjetische Denkmal im Treptower Park mit der Statue eines riesigen Rotarmisten aufzunehmen, der ein deutsches Baby im Arm hält, während er mit dem Stiefel ein Hakenkreuz zertrümmert. 20
Die spannendste Meldung des Tages in Westberliner Zeitungen war die Rekordzahl der Flüchtlinge. Eine ausdruckslose, näselnde Stimme verkündete am Notaufnahmelager Marienfelde per Lautsprecher für alle, die in der Schlange warteten, den aktuellen Stand: »Siebenhundertfünfundsechzig, siebenhundertsechsundsechzig, siebenhundertsiebenundsechzig«. Am Ende wurde die
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