Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
und sechs 105-Millimeter-Haubitzen konnte er es auf keinen Fall mit der sowjetischen Armee und ihren ostdeutschen Vasallen aufnehmen.
BÜRO DER NACHRICHTENAGENTUR REUTERS, OSTBERLIN
SONNTAG, 13. AUGUST 1961, MITTE DES VORMITTAGS
Mary Kellett-Long blickte an jenem Morgen aus dem Bürofenster in Ostberlin und sah eine wutentbrannte Menge, die stündlich größer wurde. Bislang war Mary nie aufgefallen, wie nahe ihre Wohnung in der Schönhauser Allee doch an der Berliner Grenze lag, nur knapp 400 Meter entfernt, weil die Linie noch nie so deutlich gekennzeichnet war.
Zum größten Teil bestand die Menge aus Ostberliner Jugendlichen, die sahen, dass ihre Verbindung zum Westen abgeschnitten war. Ihr Mann Adam, der inzwischen zu der Menge gegangen war, dachte, sie sähen aus wie aufgebrachte Fußballfans nach einer bitteren Niederlage, die nach einem Schuldigen Ausschau hielten. Polizisten und Betriebskampfgruppen drängten die Reihe der Demonstranten zurück, die inzwischen zwanzig Mann stark war.
Als die ersten Detonationen zu hören waren, befürchtete Mary, dass ostdeutsche Einheiten auf Zivilisten und womöglich auf ihren Mann geschossen hätten. Aber die Knaller kamen nur von den Tränengaspatronen, die die Polizei in die Demonstranten schoss. Darauf rannten diese in alle Richtungen davon.
Adam Kellett-Long erinnerte sich noch an eine sorglosere Zeit. Nicht lange vor dem 13. August hatte ein Vopo seinen Wagen zu einer routinemäßigen Kontrolle angehalten, als er von einem Shoppingausflug nach Westberlin zurückgekehrt war. Während der Polizist den Kofferraum durchsuchte, zog Kellett-Long eine Dose Bohnen aus einer Tasche, warf sie in die Luft und rief: »Das ist eine Bombe!« Der Polizeibeamte warf sich zu Boden, und seine Kollegen nahmen die Gewehre in Anschlag. Anschließend klopfte sich der Vopo den Staub ab, lachte selbst und ließ den Reporter passieren. Die Zeit für solche Witze war eindeutig vorbei. 56
Genau wie die wenigen sporadischen Proteste, die an jenem Tag in der ganzen DDR aufgeflackert waren, hatte die Demonstration weder die erforderliche Größe noch Entschlossenheit oder Reichweite, um Ulbrichts Sieg zu gefährden. Im Gegensatz zu 1953 hatte Ulbricht die Sache fest im Griff, war gut vorbereitet und genoss die volle militärische und politische Unterstützung der Sowjets. Er hatte jeden organisierten Widerstand sowohl durch den Überraschungseffekt als auch durch den Einsatz Tausender von Polizisten und Soldaten an jedem strategisch wichtigen Punkt in der ganzen Stadt verhindert.
An manchen Schlüsselstellen setzten Ulbrichts Gefolgsleute Wasserwerfer ein, um aufsässige Westberliner in Schach zu halten. Solange die alliierten
Truppen in Westberlin stillhielten – und es sah ganz danach aus –, wusste Ulbricht, dass seine Leute mit allem fertigwürden, was Ost- oder Westberliner ihnen entgegensetzen mochten. Chruschtschows Sicherheitsgarantie (die sowjetischen Panzer im Berliner Hinterland) würde er nicht brauchen.
Bild 58
Ein DDR-Polizist löst eine Demons- tration in Westberlin mit einem Wasser- werfer auf.
Marschall Konew hatte seine zweite Schlacht um Berlin gewonnen, diesmal ohne Blutvergießen.
Nach dem Vier-Mächte-Abkommen hätte Kennedy das Recht gehabt, seinem Militär zu befehlen, die Straßensperren einzureißen, die von Einheiten der ostdeutschen Armee an jenem Morgen errichtet worden waren. NVA-Soldaten waren eigentlich nicht befugt, in Berlin zu operieren. Am 7. Juli 1945 hatten die amerikanischen, sowjetischen, britischen und französischen Militärgouverneure Deutschlands vereinbart, dass sie die Bewegungsfreiheit in ganz Berlin garantieren würden. Diese Vereinbarung war erneut durch das Vier-Mächte-Abkommen bestätigt worden, das die Berlin-Blockade beendete. 57
Kennedy hatte jedoch über mehrere Kanäle schon vor dem 13. August deutlich gemacht, dass er nicht eingreifen würde, falls Chruschtschow und die Ostdeutschen ihre Aktionen auf ihr eigenes Territorium beschränkten. Abgesehen davon hatte Konew mit seiner massiven Mobilisierung unmissverständlich signalisiert, dass jede Intervention einen hohen Preis fordern würde. Sowjetische Soldaten hatten nicht nur Berlin so demonstrativ umstellt, dass die Alliierten es nicht übersehen konnten, sondern Chruschtschow war noch einen Schritt weitergegangen, indem er seine Raketenstreitkräfte in ganz Osteuropa in Alarmbereitschaft versetzte.
Dennoch hatte Konew eine nervenaufreibende Nacht durchgemacht. Falls es
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